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Künstliche Muskeln
Poröses Silizium dehnt sich auf Knopfdruck aus

Silizium ist der Stoff, aus dem die meisten Computerchips bestehen. Doch das Material kann mehr. Ein Forscherteam hat jetzt künstliche Muskeln auf Siliziumbasis entwickelt. Sie könnten Piezo-Aktuatoren Konkurrenz machen, die heute beispielsweise Smartphone-Lautsprecher zum Klingen bringen.

Von Frank Grotelüschen | 05.01.2021
Während ein junger Mann auf sein Smartphone schaut, beleuchtet das Display sein Gesicht.
Heute sorgen piezokeramische Werkstoffe für den Sound von Smartphones - künftig vielleicht künstliche Muskeln aus löchrigem Silizium (Unsplash / Eddy Billard )
Der Job von Manuel Brinker kann ziemlich ätzend sein, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Der Doktorand der TU Hamburg hantiert in seinem Chemielabor mit einer überaus aggressiven Flüssigkeit. Und deshalb muss die Versuchsapparatur unter einem speziellen Abzug stehen: "Das Besondere ist, dass die Luft, die aus dem Abzug abgesaugt wird, durch einen Flusssäure-Wäscher läuft. Im Prinzip werden Flusssäure-Dämpfe aus der Luft ausgewaschen und abgeführt in einen Container."
Die Flusssäure ist nötig, um winzige Poren in eine Siliziumscheibe zu ätzen. Das Ergebnis: nanoporöses Silizium – ein Schweizer Käse mit unzähligen Löchern, jedes nur zehn Nanometer groß. Für das Team der TU Hamburg ist das poröse Silizium die Basis für eine neue, ungewöhnliche Technik, erklärt Teamleiter Patrick Huber, Physikprofessor an der TU Hamburg: "Diese Poren haben wir ausgestattet mit, man kann sagen, Muskel-Polymeren."
Elektroaktive Polymere füllen die Löcher
Mithilfe der Polymere, also einem speziellen Kunststoff, hat die Arbeitsgruppe dem Silizium eine neue Eigenschaft verpasst. Wenn man es unter Strom setzt, schwellen die Poren an, erklärt Patrick Huber: "Und da das Milliarden von diesen Poren sind, schwillt das ganze Silizium und macht eine Bewegung."
Wird der Strom dann wieder abgedreht, schrumpft das Silizium zurück auf seine ursprüngliche Größe. Um dieses Kunststück hinzubekommen, hatte Hubers Doktorand Manuel Brinker vor allem eine Herausforderung zu meistern: Das Polymer muss in die Nanolöcher des Siliziumkäses hinein. "Da mussten wir relativ viel Frust ertragen und Arbeit reinstecken, bis wir erste Erfolge hatten", so Brinker.
Zwar übernehmen die Materialien die meiste Arbeit selbst, allerdings brauchen sie dafür den richtigen Anstoß. Zuerst werden die Grundbausteine des Polymers auf das poröse Silizium geträufelt. Dort dringen sie ins Innere ein, bis in die Poren. Dann schicken die Fachleute Strom durchs Silizium. Und der bringe die Bausteine dazu, sich zu winzigen Kunststoffknäueln zu verketten, erklärt Manuel Brinker: "Der entscheidende Trick ist eigentlich gar nicht so spannend – viel Fleiß und die richtigen Parameter finden letztendlich. Die richtige Stromstärke, dass das Polymer nicht zu schnell wächst, sondern relativ beständig und langsam die Pore füllt."
Kunststoff-Muskeln als Alternative zu Piezokeramiken
Nun können die Kunststoffknäuel in den Poren als künstliche Muskeln fungieren: Legt man eine Spannung an sie an, werden sie größer und dehnen das Silizium auseinander. Allerdings ist dieser Muskeleffekt nicht sehr stark: Um gerade mal ein halbes Promille lässt sich das Silizium dehnen. Für manche Anwendungen aber reicht das, meint Patrick Huber. Etwa als Alternative für sogenannte Piezo-Lautsprecher. Sie basieren bisher auf Keramik und finden sich zum Beispiel in Smartphones: "Riesenvorteil bei dem System ist, dass wir nur ganz kleine elektrische Spannungen brauchen, deutlich kleinere Spannungen als bei diesen piezoelektrischen Materialien, Bruchteile von einem Volt."
Womöglich ließe sich das muskelbepackte Silizium auch als druckempfindlicher Sensor nutzen. Oder als winziger Bewegungsantrieb etwa für den vielbeschworenen Nanoroboter, der durch den menschlichen Körper patrouilliert, sagt Patrick Huber: "Das Spannende beim nanoporösen Silizium ist, dass das biokompatibel ist. Und in Abhängigkeit von den Bedingungen sich sogar im Körper zersetzt und dann auch einfach ausgeschieden wird."
Zuvor aber müssen die Fachleute ein Manko beseitigen: Bislang braucht ihr Silizium-Muskel noch Sekunden, um sich anzuspannen – viel zu lange, nötig wären Millisekunden. Doch Huber hat schon eine Idee, wie sich das An- und Abschwellen des Kunstmuskels beschleunigen ließe – durch zusätzliche, wesentlich größere Poren im Silizium.