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Kulminationspunkt Dorfkneipe

Der Großstädter Norbert Scheurer macht den Kosmos des Dorfes Kall zum literarischen Ort seines Romans "Kall, Eifel". Dreh- und Angelpunkt in Kall ist eine Dorfkneipe, in der sich alle Romanfiguren immer wieder treffen und kreuzen, von wo aus sich neue Geschichten entspinnen oder Perspektivenwechsel stattfinden. Mit leisem, aber nie verletzendem Humor fängt er die alltägliche Tristesse ein, die sich manchmal zur Groteske steigert.

Von Klaus Englert | 05.12.2005
    Die Geburt des modernen Romans ist untrennbar von der Faszination für die neuen technischen Errungenschaften: Schnelle Autos, Straßenbahnen, Züge und die aufkommenden Kommunikationsmedien. Der kürzer gewordene Zeitrhythmus prägte vielen Werken ihr eigenes Stakkato auf. Die Großstadt verlangte nach einer Sprache, die den überstürzenden Ereignissen abgelauscht scheint. Nach einer Struktur, die sich den ständig wechselnden Eindrücken anpasst. Dafür stehen John Dos Passos‘ New York und Alfred Döblins Berlin.

    Die Moderne hat aber neben dem Großstadtroman auch seinen Gegenpol hervorgebracht: Die Entdeckung des Dorfes und der stillstehenden Zeit, mithin einen Regionalismus, für den es ganz eigene Stilmittel zu erfinden galt. Dazu gehört eine Sprache, die sich dem langsamen Fluss der Zeit angleicht. Bei dem Amerikaner Sherwood Anderson heißt dieses Dorf Winesburg, bei dem Spanier Julio Llamazares Olleros. Es tut kaum etwas zur Sache, dass der eine Ort in Ohio und der andere in Asturias liegt. Hauptsache, sie sind ziemlich gottverlassene Kaffs abseits der hektischen Zivilisation.

    Norbert Scheuer hat nun diesen literarischen Orten einen weiteren hinzugefügt: Er heißt Kall, liegt in der Eifel und nicht zufällig denkt der Leser dabei ans umgangssprachliche "Kaff". Allesamt sind es Dörfer, die ihren eigenen Kosmos errichtet haben, mit wenigen Bezügen zur großstädtischen Kultur. Scheuer, der in der Landeshauptstadt Düsseldorf studierte, und seit etwa 15 Jahren in der Nähe von Kall lebt, schildert, wie er Thema und Stil seiner Geschichten gefunden hat:

    "Von meinem Werdegang her ist es tatsächlich so, dass es erst dann, als ich wusste, "Du schreibst jetzt in dieser Region", "Du schreibst über diese Region", ich befreit schreiben konnte. Vorher war das ein schriftstellerisches Hin- und Herspringen, und der Zusammenhalt kam erst, als ich den Ort gefunden hatte."

    "Kall. Eifel" hat mit "Winesburg. Ohio" nicht nur die Wahl eines Provinznests als Handlungsort gemeinsam. Norbert Scheuer ließ sich von Anderson auch zu einer vergleichbaren Struktur anregen. "Kall. Eifel" besitzt nämlich keine durchgehende Romanhandlung. Die Kapitel sind eher wie Mosaiksteinchen aneinandergefügt, ohne dass das gesamte Bild ein harmonisches Ganzes ergeben würde. In 45 Episoden führt uns der Autor etliche Einwohner der Eifelgemeinde vor. Mit ihren Schrulligkeiten und Träumen, mit ihrem Lebensüberdruss und ihren insgeheimen Lüsten. Nicht alle dieser sonderbaren Figuren stammen aus Kall, einige sind aus Düsseldorf hergezogen, andere verlassen urplötzlich die provinzielle Enge. Doch Kall bleibt der Fixstern, um den sich alles dreht:

    "Ich sehe mich nicht als Eifelschriftsteller, sondern einfach nur als Schriftsteller, weil ich meine, dass, wenn eine Geschichte gut erzählt ist, sie sozusagen an jede Gegend und an jeden Ort übertragen werden kann. Ich meine, das ist das Kriterium einer guten Geschichte. Obwohl dann gleichzeitig die Geschichte ihre Besonderheiten behält. Auf der einen Seite eine Ortsbezogenheit, auf der anderen Seite eine Form der Allgemeinheit. (...) Das machen gute Geschichten aus. Wenn man so die Literaturgeschichte durchgeht, stellt man fest, dass die weitaus meisten Schriftsteller immer auch einen bestimmten regionalen Ort haben, auf dem aufbauend sie dann ihre Geschichten geschrieben haben."

    Wenngleich sich Scheuer gegen das Etikett "Eifel-Schriftsteller" wehrt, etliche Personen und Orte aus "Kall. Eifel" finden sich bereits im früheren Erzählband "Der Hahnenkönig" und in den Romanen "Der Steinesammler" und "Flußabwärts". In Scheuers literarischem Kosmos sind die Figuren und Ortschaften leicht identifizierbar, jeder Schritt in ein unbekanntes Terrain des Kallschen Universums enthüllt, wie hier die merkwürdigsten Dinge auf geheimnisvolle Weise zusammengehören. Im neuen Erzählband taucht sogar der "Hahnenkönig" wieder auf – eine abstruse Geschichte aus den mythischen Abgründen der Eifel. Der Hahnenkönig und alle anderen werfen ein Licht auf das teils reale teils fiktive Kall der siebziger Jahre.

    Immer sind es einzelne Figuren, denen sich Scheuer in einer lakonischen, fast spröden Sprache zuwendet. Und man merkt schnell, dass jede andere Sprache fehl am Platze wäre. Diese Typen mögen noch so schräg sein, irgendwie werden sie alle mit gleicher Anteilnahme bedacht. Da wäre beispielsweise Vincentini, der zusammen mit dem tumben Rosarius seinen Kunden ein elektrisches Akupunkturgerät andrehen wollte, das angeblich "fast jede Beschwerde heilt". Oder Anton Braden, der "über seinen Steinen saß und deren Geschichte aufschrieb". Oder Malchold, der mit den unentwegt wiederkehrenden Schatten sprach. Oder Höffner, der für eine Menge Geld ein absolut wertloses Sumpfgelände kaufte.

    Alle diese Gestalten sind so verschroben wie liebenswürdig. Und alle, so verschieden sie auch sein mögen, haben eines gemeinsam: Sie sind Bewohner des Planeten Kall und treffen sich regelmäßig im Zentrum dieses sonderbaren Himmelskörpers – in der Gaststätte der Arimonds. Norbert Scheuer, der auch Physiker ist, erzählt, wie er "Kall. Eifel" aus kleinen und großen Zentren aufgebaut hat.

    "Wenn man diesen Ort Kall, den Kernort, sich ansieht und sich vorstellt, dass dies ein großer Kreis ist, dann sind innerhalb dieses großen Kreises kleinere Kreise, die die Geschichten darstellen, und diese Kreise überschneiden sich, und an diesen Überschneidungspunkten treten bestimmte Personen auf, die dann auch wieder in anderen Geschichten vorkommen, sprich in anderen Kreisen. (...) Innerhalb dieses großen Kreises - Kernort: Kall, Eifel – gibt es einen kleinen Kreis, eine Art Kulminationspunkt, und das ist die Kneipe, die Kneipe der Arimonds. Und einer der Hauptprotagonisten in dieser Geschichte ist Leo Arimond. Und teilweise werden Geschichten aus seiner Sicht oder der Sicht seiner Eltern geschildert. (...) Viele Geschichten spielen sich auch innerhalb dieser Kneipe ab oder sind Erzählungen, die aus dem Kreis dieser Kneipe hervorgehen."

    Die Stammkundschaft der Arimond-Kneipe ist riesig. Und auch die Zahl der Figuren, die uns Scheuer nahe bringen will. Der Rezensent hat sich redlich Mühe gemacht, eine "cast of heroes" anzulegen, um einen besseren Durchblick bei den Stammbäumen, Freundschafts- und Liebesbeziehungen zu bekommen. Aber vergebens, allein Gestalten wie Servatius, Sartorius, Severing und Salentin auseinander zuhalten, verlangt ein Erinnerungsvermögen, für das man sich einen Vincentinischen Gedächtnisapparat wünscht. Wie der funktioniert, wird Scheuer bestimmt in einem seiner nächsten Bücher beschreiben.

    Der in die Provinz ausgewanderte Großstädter Norbert Scheuer besitzt die seltene Gabe, ambivalente Gefühle mit großer Leichtigkeit zu erzählen. Mit leisem, aber nie verletzendem Humor fängt er die alltägliche tristesse ein, die sich manchmal zur Groteske steigert. In den Personen von "Kall. Eifel" mischen sich hochfliegende Pläne und Lebensverzweiflung, tiefe Melancholie und Alltagsroutine, Heimatverbundenheit und Weltflucht. Alle diese Figuren finden sich auf dem kleinen Planeten Kall. Wer sie auffinden will, braucht nur die literarische Landkarte von Norbert Scheuer aufzuschlagen.

    Nur einen wird man dort nicht mehr antreffen. Er heißt Nellesem. Direkt nach der Hochzeit mit seiner "hübschen Frau" verschwand er auf Nimmerwiedersehen. "Er setzte sich auf die Maschine, ließ den Motor aufheulen und brauste über die glatte Straße wieder davon."

    Norbert Scheuer: Kall. Eifel, Verlag Beck, München 2005, 191 S., gebunden, 17,90 Euro.