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Kultur und El Kaida

In der modernen Gesellschaft scheinen religiöse Rituale an Bedeutung zu verlieren. Doch dies sei ein Trugschluss, meint der Ethnologe Thomas Hauschild. Alte Rituale leben weiter, neue Rituale werden aus anderen Kulturen nach Europa importiert. Sie bieten auch das kulturelle Fundament für El Kaida, für Ehrenmorde und andere Phänomene, die Hauschild in "Ritual und Gewalt" näher beleuchtet.

Von Thomas Kleinspehn | 24.07.2008
    Bisher waren die Rezensenten in den großen Feuilletons überwiegend irritiert. Da kommt einer daher, der ihre bisherigen Erklärungsversuche zum Terrorismus und Fundamentalismus in Frage stellt oder zumindest relativiert. Das passte nicht ins Konzept. Der Ethnologe Thomas Hausschild dagegen versucht Rituale, Terror und Gewalt von unten zu verstehen und scheut sich dabei nicht, in die Abgründe von Volksreligionen und Volkskultur hinab zu steigen, die andere Intellektuelle nur mit Abstand betrachten.

    "Es gibt ein paar Leute, die mitgemacht haben, Berichte darüber geschrieben haben. Bei denen geht es merkwürdigerweise nie um das zentrale Detail, nämlich die Religion und die Rituale. Die sind so gefangen von dem politischen Punkt und dem terroristischen Aspekt selbst und wahrscheinlich auch so beschäftigt, dass sie nur darüber schreiben. Und ich würde eben gerne mehr erfahren über die Fabrikation dieser Gruppe, über ihre innere Motivation, wie man auch sagen könnte und deswegen muss ich Umwege gehen. Es gibt keine direkten Informationen."

    Und diesen Umweg nimmt Hauschild über Italien und über mediterrane Kulturen. An ihnen untersucht er, welche Bedeutung Rituale und Gewalt haben. Dabei greift er in seine große Erfahrungs- und Forschungskiste, in der sich vielfache Beobachtungen und Recherchen über die Popularkultur mit ihren Kulten und Bräuchen befinden. Sie hat der Ethnologe seit vielen Jahren immer wieder auf die Brüche zwischen europäischer Hochreligion und volkstümlichen Kulten untersucht oder anders: zwischen "Wildnis" und Zivilisation. Für sein jetziges Buch befragt er die Daten neu und entdeckt Parallelen.

    "In der weiten Fläche, in der großen Summe sind das Menschen, die mit lokalen Kulten groß geworden sind, auch mit sehr einfachen und klar gegliederten Verhältnissen von Gefolgschaft. Sogar mit klientelären Beziehungen, also wo man sich auf einzelne Personen als Garanten und Führer einlässt. Und um sie herum sich dann so Netzwerke verdichten, die sehr massiv, Clanartig wirken können. Das sind alles soziale Gewohnheiten, auch ökonomische Zwänge, ganz kleine ökonomische Sicherheit, Reserven, wie ich das nenne, aus denen heraus dann eine schockhafte Erfahrung von Modernität, Individualität gemacht wird. Das machen alle Menschen überall in der Welt in einer Form durch, auch die Europäer. Und in dieser schockhaften Situation, da kann die Rückversicherung durch die alten Kulte manchmal versagen und es kann auch der Wunsch aufkommen nach einem modernisierten Kult, nach einem weltweiten Kult, vielleicht auch nach einem machtvollen Kult und in dem Rahmen kann man Fundamentalismen sehr klar einordnen."

    So begreift Hauschild Fundamentalismus, auch El Kaida, keineswegs als Rückfall, sondern als Reaktion auf den Schock der Modernisierung. In ihre dogmatische Ideologie seien ganz unterschiedliche Rituale und Traditionen eingeflossen. Anders als es im Westen häufig interpretiert wird, geht es aus seiner Sicht nicht um einen Religionskrieg zwischen Christentum und Islam, sondern um soziale Fragen und um solche der Tradition. Hauschild will von den Fehlinterpretationen wegkommen. Er argumentiert dabei durchaus überzeugend, manchmal allerdings auch ein wenig aufdringlich.

    "Der Islam ist nicht Schuld an El Kaida und der mediterrane Ehrencodex ist nicht Schuld am Ehrenmord, sondern das sind fiktive Größen, wobei El Kaida gibt's wirklich und da muss man sich fragen, was ist hinter diesem wirklichen Handeln der Menschen. Was sind da die Haupttriebkräfte. Und da würde ich sagen, sind Erfahrungen von Entwurzelung und Wiedereinpflanzung in den Tauschverhältnissen, in den Lebensverhältnissen, in den Lebenszusammenhängen, in der ganzen Zirkulation von Waren, Geld, Dienstleistungen, Freundschaften usw. in modernisierten Gebieten ganz starke Treibkraft, die solche Entwicklungen hervorbringen. Und dann klauben sich die Leute wild irgendwelche kulturellen Stanzen, irgendwelche Bücher, irgendwelche Aussprüche zusammen und zimmern sich daraus noch so einen ideologischen Helm, den sie sich überstülpen können."

    Diese Abgrenzung ist der eigentlich Kern des Buches. Hauschild arbeitet einzelne seiner älteren Aufsätze wieder auf, um sie dann auf fundamentalistische Gewaltaktionen zu beziehen - von El Kaida bis zum Ehrenmord in Deutschland. Dabei geht es genauso um das Heilige, wie um mediterrane Religionen oder um die Mafia. In ihnen entdeckt er ähnliche Muster und Prozesse, wie bei El Kaida.

    Der Ethnologe von der Universität Halle plädiert dafür, diese Prozesse und die populäre Kultur ernster zu nehmen, indem auch Wissenschaftler sich direkt auf sie einlassen. Hauschild hat an zahlreichen Orten im Mittelmeerraum selbst gelebt und unmittelbare Beobachtungen aus dem Alltag der Menschen aufgezeichnet. Aus dieser Praxis heraus wirft er seinen Kollegen vor, sie hätten in den letzten Jahrzehnten die Rationalität und die Schriftkultur zu ernst genommen. Diese Kritik stellt die Metaebene des Buches dar. Gegenüber der herrschenden Ethnologie ist sie sicher weitgehend berechtigt, denn sie hat in letzter Zeit, nach Jahren der dichten Beschreibung und der Feldforschung wieder sehr stark auf Texte und deren Interpretation zurückgegriffen. Für seinen Versuch, Kulturtheorie, Sozialanthropologie und ökonomische Theorie zusammenzubringen, kann das Hauschild jedoch nicht ausreichen.

    "Das ist auch meine Kritik an den Kulturwissenschaften als Ganzes, dass sie die Ethnologie jetzt seit Jahrzehnten mit großem Schulterklopfen loben für ihre Selbsteinsicht, ihre Selbstkritik. Dabei ist wenig Selbstkritik im Bereich der Kulturwissenschaften selbst spürbar. Ich denke, dass die Kulturwissenschaften insgesamt zu Textfixiert sind und zu stark auf Kultur als ein kompaktes Ganzes fixiert, so dass sie menschliches Verhalten gar nicht gut erklären können oft."

    Dieser Anspruch gerät allerdings in seinem Buch notwendigerweise in schwieriges Gewässer. So eindrucksvoll nämlich Hauschild die materielle Kultur und die Bedeutung von Kulten und Ritualen im Mittelmeerraum analysiert, so sehr bleibt er bei der Untersuchung von El Kaida in seinen eigenen Erwartungen stecken. Denn würde er sie auch hier ernst nehmen, müsste er das auch in konkrete Feldforschungen umsetzen und nicht nur Textanalysen betreiben. Als Ethnologe unter den fundamentalistischen Kämpfern im Nahen Osten zu leben, verbietet sich aber von selbst. So öffnen Hauschilds Untersuchungen zwar einen Weg zu einem besseren Verständnis von Reaktionen und Handlungen in islamischen Kulturenzusammenhängen. Mit dem ausformulierten eigenen Anspruch stellt er sich aber selbst ein Bein, weil er in seinem Buch bei der Analyse konkreter fundamentalistischer Gewalt selbst textfixiert bleiben muss.

    Thomas Hauschild: Ritual und Gewalt
    Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften

    Suhrkamp, Frankfurt, 2008, 24,80 Euro