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Kulturelle Faktoren der Vererbung

Das Schicksal eines Menschen wird keineswegs ausschließlich durch Gene bestimmt. Entscheidender ist, welche äußeren Einflüsse diese Gene gewissermaßen wie einen Lichtschalter anknipsen. Dieses sehr junge und neue Forschungsfeld der Genetik nennt sich Epigenetik.

Von Volkart Wildemuth | 17.11.2011
    Im Winter 1944/45 hungerte ganz Dänemark. Die Folgen spürten nicht nur die damals schwangeren Mütter, sondern auch deren Kinder und Enkel. Umweltfaktoren wie Nahrungsmangel oder Stress können Effekt über Generationen hinweg erzeugen. Dabei wird nicht das Erbgut selbst verändert. Die sogenannten epigenetischen Faktoren beeinflussen aber über längere Zeit, wie die Gene jeweils wirken, wann und wo im Körper sie zum Einsatz kommen. Die Epigenetik ist damit eine Schnittstelle zwischen Erbgut und Umwelt, vielleicht sogar Kultur. Kein Wunder, dass der Amerikanist Doktor Jörg Thomas Richter fasziniert ist.

    "Was sich gezeigt hat in den Befunden war eben, dass sogenannte kulturelle Faktoren oder zumindest Umweltaktoren in die Vererbung hineinspielen und sich irgendwie biologisch manifestieren. Die Epigenetiker sagen, die Kultur spielt eine Rolle, dann müsste man als Kulturwissenschaftler sagen können: ja, welche Rolle könnte sie den spielen? Oder zumindest eine Antwort parat haben, welche Rolle die Epigenetik in der Kultur spielt."

    Am ZfL, dem Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, arbeitet Richter im Projekt "Kulturelle Faktoren der Vererbung" zusammen mit Dr. Vanessa Lux. Als Psychologin ist sie vertraute mit den Diskussionen ob der Mensch mehr durch seine Umwelt und damit die Kultur geprägt wird, oder ob das Erbgut, die Natur entscheidend ist. Von der Epigenetik erhofft sich Vanessa Lux eine Art Versöhnung der scheinbar gegensätzlichen Pole. Sie zitiert Tierexperimente zur Traumaforschung: Dabei haben Forscher Mäuse mit einer genetisch bedingten Neigung zur Ängstlichkeit direkt nach der Geburt zu Pflegemüttern gegeben. Diese Mäuse-Supernannies kümmerten sich besonders intensiv um den fremden Nachwuchs. Und der entwickelte daraufhin eine stabile Nagerpersönlichkeit. Die epigenetische Prägung durch die gute Pflege konnte den Effekt der Angstgene aufheben.

    "Diese Prozesse sind jetzt sozusagen im Tiermodell mehrfach reproduziert worden und zeigen einen Zusammenhang anscheinend zwischen dem, wie sozusagen Mäuse mit ihren Nachkommen umgehen und dem, wie sie belastbar sind auf Stress, welche Ängstlichkeit sie zeigen, ob sie tendenziell ein depressives Verhalten jetzt im Mausmodell zeigen könne."

    Bei den Mäusen lässt sich untersuchen, wie Epigenetik funktioniert. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Hinweisen, dass es ähnliche Prozesse auch bei Menschen gibt. So haben Menschen, die in besonders armen oder besonders reichen Familien aufgewachsen sind noch 50 Jahre später andere epigenetische Prägungen. Der Genetiker Professor Jörn Walter von der Universität des Saarlandes in Saarbrücken ist aber skeptisch, ob sich diese Prägungen auch tatsächlich über mehrere Generationen vererben.

    "Es gibt Auswirkungen der Umwelt und Umweltfaktoren auf das Individuum und die Ausprägung der eigenen genetischen Fähigkeiten und des eigenen gentischen Programms. Dass wir jetzt aber sagen können, dass kulturelle Faktoren die Gene beeinflussen, epigenetisch, die dann wiederum weitervererbt werden, das halte ich für wenige fundiert und nicht nachweisbar."

    Klar ist aber, dass der Lebensweg jedes Einzelnen durch epigenetische Mechanismen geprägt wird. Der Fetus im Mutterleib nimmt seine Umwelt quasi wahr: Gibt es genug Nahrung, hat die Mutter Stress? Je nach Situation wird dann epigenetisch zwischen bestimmten Programmen hin- und hergeschaltet, die ihrerseits wieder genetisch sind. Die frühen Festlegungen bleiben den ganzen Rest des Lebens stabil. Zumindest auf einem Gebiet geben Frauen ihre Erfahrungen ganz konkret an ihre Kinder weiter und das ist das Immunsystem. In der Muttermilch sind Antikörper, die die Gesundheitsgeschichte der Mutter repräsentieren und die ihre Kinder nicht nur direkt schützen, sondern deren eigene Abwehrkräfte formen. Der Immunloge Hilmar Lemke von der Christian-Albrechts-Universität Kiel erinnert an die Kinderlähmung. Das Poliovirus gibt es schon seit Ewigkeiten, eine Epidemie konnte es aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg auslösen, vermutlich, weil kulturelle Veränderungen, konkret Hygienevorstellungen, das Zusammenspiel zwischen mütterlichen Antikörpern, kindlichem Immunsystem und dem Erreger veränderten.

    "Damit ist praktisch die Umweltbedingungen, wie sie vorher waren oder wie sie jetzt nach dem zweiten Weltkrieg besonders waren, entscheidend dafür, ob die Krankheit eben eine Krankheit oder der Erreger apathogen ist."

    Mit dem Immunsystem beschäftigt sich auch der Literaturwissenschaftler Johannes Türk Professor an der Indiana Universität im amerikanischen Bloomington. In seinem Buch "Die Immunität der Literatur" hat er untersucht, wie Autoren wie Goethe, Schiller oder aktueller Christa Wolf die jeweils zu ihrer Zeit herrschenden Vorstellungen zu den Abwehrkräften in ihren Werken nutzen.

    "Natürlich ist es in manchen Fällen so, dass es nur in Anführungsstrichen eine Metapher ist. Aber in sehr vielen wird eben nicht nur eine Metapher transportiert, sondern es wird etwas sagbar. Also zum Beispiel bei Proust, das Leiden an der Eifersucht, eine Übersensibilität bestimmten Menschen gegenüber, darüber ließe sich viel schwerer sprechen, wenn es nicht möglich wäre, aus dem Bereich der Immunologie sich Modelle oder Sprache zu bedienen, die aus dem Bereich kommt."

    Die Epigenetik könnte Autoren einen neuen Blickwinkel auf die menschlichen Beziehungen eröffnen. Dieser Transfer von Modellen zwischen unterschiedlichen Bereichen faszinierte viele Teilnehmer des Workshops. Auch wenn er bislang mehr postuliert, als gelebt wird. Es sind eben doch sehr verschiedene Blickwinkel, auf zum Teil sehr unterschiedliche Themenkomplexe. Die Epigenetik mag eine Brücke zwischen der Umwelt und den Genen darstellen, eine ähnliche fruchtbare Schnittstelle zwischen den Natur- und Kulturwissenschaften muss erst noch gefunden werden. Einen ersten Ansatzpunkt dafür liefert der Begriff der Verantwortung, so Jörg Thomas Richter. Schließlich prägen gute oder schlechte Ernährung, Stress oder Gelassenheit nicht nur das eigene Leben, sondern auch das der Nachkommen.

    "Wofür ist meine Großelterngeneration direkt quasi biologisch verantwortlich? Das ist eine Dimension, wo man von Verantwortungsexplosion sprechen könnte. Ich glaube hierzu ist einfach ein intensiver Dialog notwendig. Nicht nur sagen von Bioethikexperten, Medizinern und verschiedenen Interessenvertreter, sondern es gehört auf breit diskutierte Grundlage, für die man einbeziehen muss, was verfügbar ist und dazu gehört ein breites kulturelles, literarisches, mediales Spektrum in die Diskussion hinein."