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Kulturhauptstadt Chemnitz 2025
Europa, schau genauer hin

Trotz Kungelvorwürfen haben die Bundesländer die Juryentscheidung abgesegnet: Chemnitz ist nun offiziell Kulturhauptstadt. Das sei politisch zwar richtig, aber dennoch blieben viele Fragezeichen, kommentiert Tobias Krone. Die EU müsse schleunigst das Auswahlsystem reformieren.

Ein Kommentar von Tobias Krone | 11.01.2021
Das Opernhaus ist nach der Ernennung von Chemnitz als Kulturhauptstadt 2025 mit Transparenten geschmückt.
Chemnitz wird Kulturhauptstadt 2025 (picture-alliance/dpa-Zentralbild/Jan Woitas)
Glückwunsch Chemnitz! Die Sache mit den Kungelvorwürfen bei Kulturhauptstadtbewerbungen könnte jetzt ausgestanden sein. Die Bundesländer haben die Kulturhauptstadt 2025 offiziell abgesegnet. Die Kuh ist vom Eis. Und für die meisten deutschen Medien wird es sich damit wohl auch nicht mehr lohnen, in der Causa Kulturhauptstadt weiter zu recherchieren. Obwohl das so wichtig wäre.
Denn wie unabhängig die Jury-Entscheidungen zu europäischen Kulturhauptstädten sind – dazu gibt es nicht nur im Fall Chemnitz deutliche Fragezeichen. Europa sollte möglichst schnell das System reformieren – wie und von wem Europäische Kulturhauptstädte ausgewählt werden.
"WANDELGANG" des niederländischen Künstlerkollektivs Observatorium ist eine Art Brücke über eine Straße. Das Werk ist Teil des Kunstprojekts "Gegenwarten/Presences" im öffentlichen Raum in Chemnitz und ist eine wichtige Etappe bei der Bewerbung als Kulturhauptstadt 2025.
Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz - Undurchsichtiges Auswahlverfahren
Ehrlicher Wettbewerb oder Vetternwirtschaft – so lauteten die Vorwürfe rund um die Vergabe des Titels "Europäische Kulturhauptstadt". Besteht tatsächlich eine zu enge Verbindung zwischen Beratern und Jury oder wird ein Skandal lediglich inszeniert?
Begrenzter Markt mit wenigen Akteuren
Zunächst sollte man differenzieren: Die Beratungs-Szene im Bereich Kulturhauptstadtbewerbung ist überschaubar. Europäische Kulturhauptstadt – auf diesen Titel bewerben sich Städte äußerst selten. Sie suchen deshalb Rat bei erfahrenen Expertinnen und Experten, von denen es relativ wenige gibt. Und so kommt es eben vor, dass Jahr für Jahr, Land für Land, Stadt für Stadt immer wieder dieselben Namen zur Beratung antreten – und sich dafür auch bezahlen lassen.
Das wirkt manchmal absurd, weil es vorkommt, dass teils konkurrierende Bewerberstädte mit den gleichen Beratern zusammenarbeiten. Aber so ist das nun mal in einem sehr begrenzten Markt. Und jede Stadt, die sich im Nachhinein über den "Wanderzirkus" beschwert, sollte sich auch fragen: Warum habe ich mich denn selbst in der Beratungsphase auf ihn eingelassen?
Auf der anderen Seite gibt es offensichtliche Widersprüche in der Jury. Aus der Berater-Szene hört man ja jetzt immer wieder eifrige Verteidigungsversuche: Die Sache sei gar kein Skandal – allein die bayerische Stadt Nürnberg als schlechte Verliererin und schließlich die bayerische CSU würden jetzt nachkarten. Da ist etwas dran.
Gewiss empört sich Bayern in der Kulturministerkonferenz besonders laut. Aber wer sich in anderen Bundesländern umhört, merkt schnell: Bayern ist nicht allein. Deutschlandweit und parteiübergreifend wollte man wissen, wie diese Widersprüche zustande kamen. Zum Beispiel, was es mit der Friedensfahrradtour auf sich hat, die Chemnitz plant: just zum Kulturzentrum in Tschechien, das ein Jurymitglied leitet.
Widerspruch zu den Compliance-Regeln
Auch wenn die Beteiligten darauf beharren, alles sei sauber gelaufen: Hier findet sich vor allem ein waschechter Widerspruch zu den Compliance-Regeln. Diese haben alle Jury-Mitglieder unterschrieben. Compliance heißt in diesem Fall: Alle in der Jury versichern, dass sie nicht persönlich von ihrer Jury-Entscheidung profitieren.
Lachhaft wird eine solche Erklärung, wenn nun auch herauskommt, was nach der 2016 erfolgten Wahl Temeswars in Rumänien passierte: Laut der Süddeutschen Zeitung soll ein deutsches Mitglied der damaligen Jury während seiner Jury-Amtszeit in das so genannte "Board of Directors" des dortigen Kulturhauptstadt-Vereins berufen worden sein. Das Jurymitglied selbst gibt an, erst kurz nach seiner Jury-Tätigkeit gefragt worden zu sein. Wie auch immer - die Person bekleidet ein Amt in der Stadt, die sie selbst mit ausgewählt hat. [*]
Doch warum ist sowas möglich? Wahrscheinlich, weil die Sache ein äußerst kompliziertes Konstrukt ist: Mehrere europäische Gremien benennen die Fachleute, die in der Jury sitzen. Und die Europäische Kommission wäre am Ende für deren normgerechtes Verhalten verantwortlich. Auf Anfrage des Deutschlandfunks erklärt die EU-Kommission, sie vertraue auf die Unterschriften der Jury-Mitglieder unter der Compliance-Vereinbarung.
Doch ob sich auch alle an diese Regeln halten – das scheint offenbar niemand wirklich zu kontrollieren. Ob das Verfahren nicht geändert werden muss – das müsse man noch evaluieren, schreibt die Kommission. In sage und schreibe drei Jahren wolle man die Ergebnisse dem EU-Parlament vorstellen. Das klingt wie einer der klischeebehafteten Brüssel-Witze.
Dass die Kulturministerinnen und -minister heute Chemnitz ernannt haben, ist politisch richtig. Für Chemnitz sprechen ja wirklich gute Gründe. Aber es bleibt ein Makel an der Juryentscheidung. Der Skandal, der hier vorliegt, ist ein europäischer Skandal. Und ganz Europa sollte Interesse daran haben, dass er rasche Konsequenzen hat.

[*] Anmerkung der Redaktion: Die erste Version des Absatzes enthielt sachliche Fehler, die wir korrigiert und richtiggestellt haben.