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Kunst des Schweigens

Wie gerne würde man wieder einen großen Roman von Javier Marias lesen. Werke wie Mein Herz so weiß, diese Familientragödie mit ihren gewitzten Shakespeare-Bezügen, oder Der Gefühlsmensch, wo ein reisender Opernstar im Mittelpunkt stand, sind in bester Erinnerung. Zuletzt kamen von Marias ein paar Bücher, die nur noch halb befriedigen konnten – die ironisch gemeinten Schriftstellerporträts von Geschriebenes Leben etwa, die gesammelten Kommentare zum spanischen Fußball in Alle meine früheren Schlachten oder die Erzählungen von sehr gemischter Qualität in Als ich sterblich war.

Von Wolfgang Schneider | 21.11.2004
    Um so vielversprechender, dass Marias neues Großwerk Dein Gesicht morgen, von dem nun der erste, knapp fünfhundert Seiten starke Teilband mit dem Untertitel "Fieber und Lanze" auf deutsch erschienen ist, in mancher Hinsicht an seinen viel gelobten Campus-Roman Alle Seelen von 1989 anschließt. Dort berichtete ein Spanier von seinem Lektoren-Leben in Oxford, einem Ort kultivierter Langeweile, vieler Heimlichkeiten und verschrobener Rituale. Autobiographische und fiktive Anteile gingen bereits in diesem frühen Werk jene kalkulierte Durchmischung ein, die auch Dein Gesicht morgen bestimmt.

    Inzwischen sind zehn Jahre vergangen. Jaime Deza, Haupt- und Erzählerfigur des Buches und zugleich Alter ego des Autors, ist aus Madrid nach England zurückgekehrt. Es scheint eine Flucht auch vor seiner privaten Misere, denn neuerdings lebt er getrennt von Frau und Kindern. Er arbeitet nun ein wenig für die BBC, vor allem aber ergeben sich bald Kontakte zu sehr geheimnisvollen Geheimdienstkreisen. Dezas Oxforder Mentor und Gesprächspartner Sir Peter Wheeler, ein emeritierter Professor von über achtzig Jahren, entpuppt sich als Mitglied der britischen "Military Intelligence" MI6, für die er vor allem während des Zweiten Weltkriegs aktiv war. In Gesprächen und mäandernden Reflexionen lebt diese gefährliche Zeit wieder auf. Dabei konturieren sich bald Leitmotive und thematische Linien: Vertrauen und Verrat, Erzählen und Schweigen.

    "Man sollte niemals etwas erzählen...", lautet schon der erste Satz des Romans. Denn was erzählt wird, kann missbraucht werden, vor allem in Zeiten des Krieges. Wer von einem Geheimnis weiß, dem bleibt nur noch eine Wahl – Komplize oder Verräter zu werden. Juan Deza zum Beispiel, der Vater des Erzählers, wurde im Spanischen Bürgerkrieg von seinem besten Freund verraten. Er hatte Glück im Unglück, denn die Faschisten stellten ihn nicht an die Wand; er kam mit Gefängnis davon. Später, wieder in Freiheit, verschwendete er keinen Gedanken mehr an den Verräter. Das wirkt merkwürdig; um so fulminanter die schroffe, aber nicht wortkarge Begründung für diese Haltung:

    Es gibt Menschen, deren Beweggründe kein Nachforschen verdienen, obwohl sie sie dazu getrieben haben, schreckliche Taten zu begehen. Ich weiß, das geht völlig gegen die heutige Tendenz. Heutzutage fragt sich jeder, was einen Serien- oder Massenmörder dazu bringt, massiv oder serienweise zu morden, einen Sammler von Vergewaltigungen dazu, seine Sammlung ständig zu erweitern, einen Terroristen dazu, alle Leben im Namen irgendeiner primitiven Sache zu mißachten (...) Es herrscht ein obsessives Interesse daran, das Abscheuliche zu begreifen, im Grunde ist das eine krankhafte Faszination, und den Abscheulichen tut man damit einen riesigen Gefallen. Ich teile sie nicht, diese unendliche Neugier unserer Zeit für das, was in keinem Fall Rechtfertigung besitzt, auch wenn man tausend verschiedene Erklärungen dafür findet, psychologische, soziologische, biographische, religiöse, historische (...)

    Heute findet man Gefallen daran, sich dem Niedrigsten und Gemeinsten, dem Monströsen und Abwegigen auszusetzen, sich dem Unmenschlichen anzunähern, (...) als besäße es Prestige oder Reiz und größere Tragweite als die hunderttausend Konflikte, die uns zu schaffen machen, ohne in diese Extreme zu verfallen. (...) Es gibt so abscheuliche oder so verachtenswerte Taten, dass ihr bloßes Begehren jede mögliche Neugier für den Täter zunichte machen müßte, statt sie zu erzeugen und zu provozieren, wie es heute in so dümmlicher Weise geschieht. (...) Was dieser ehemalige Freund mit mir gemacht hatte, was so unentschuldbar, so unzulässig und schwerwiegend unter dem Gesichtspunkt der Freundschaft, dass seine ganze Person sofort aufhörte mich zu interessieren.


    Juan Deza ist, wie man sieht, ein großer Unzeitgemäßer – Marias errichtet hier seinem Vater, dem Philosophen Julian Marias, ein literarisches Denkmal. Ganz anders als dem Vater geht dem Sohn dieser Verrat und vor allem der Verräter nicht mehr aus dem Kopf. Wie konnte der Vater Kindheit und Jugend gemeinsam mit diesem "besten Freund" verbringen, ohne, wie es heißt, "sein Wesen oder zumindest sein mögliches Wesen zu erahnen?"

    Was ich nicht verstehe und nie verstanden habe, ist, dass du nichts geahnt hast, dass du ihn nicht durchschaut hast, wo du ihn doch jahrelang in deiner Nähe hattest, so etwas liegt doch im Charakter.

    Damit sind wir im heißen thematischen Kern des Buches; an diesem Punkt erschließt sich die Bedeutung des auf den ersten Blick etwas rätselhaften Titels Dein Gesicht morgen:

    Wie ist es möglich, dass ich heute nicht dein Gesicht morgen erkenne, das schon da ist oder hinter dem entsteht, das du zeigst, oder hinter der Maske, die du trägst, und das du mir erst dann vorführen wirst, wenn ich es nicht erwarte?

    Möglich ist dies, wenn man sich nicht auf Physiognomik und Verhaltensforschung versteht – darauf also, die äußere Erscheinung eines Menschen, all die verräterischen Kleinigkeiten seines Gebarens schlüssig zu deuten. Es ist kein Zufall, dass Jaime Deza eine außerordentliche physiognomisch-psychologische Begabung entwickelt. Anders als sein Vater hat er den immerwachen Blick, der durch die Oberfläche der Gegenwart dringt. Verborgene Absichten lassen sich erkennen, eben weil sie niemals ganz verborgen sind. Schicksal und Charakter seien "begrifflich dasselbe", heißt es an einer Stelle. Wenn diese kardinale Gleichung stimmt und man den Charakter eines Menschen zuverlässig aus seinem Äußeren und seinem Verhalten lesen kann, kennt man demnach auch seine Zukunft, ganz ohne Hellseherei.

    Man weiß gewöhnlich, wie die Dinge enden, wie sie sich entwickeln und was uns erwartet, welche Richtung sie nehmen und worauf sie hinauslaufen; alles ist erkennbar, in Wirklichkeit ist alles sehr rasch sichtbar in den Beziehungen, man muß sich nur trauen, es anzuschauen (...) man sieht eines Tages eine unverwechselbare Geste, erlebt eine eindeutige Reaktion, hört einen Ton in der Stimme, der viel sagt und noch mehr ankündigt (...) Man sieht, wer eines Tages wen verlassen wird, wenn einem ein Ehepaar oder ein Paar vorgestellt wird, und man sieht es sofort, kaum dass man sie begrüßt hat. (...)

    Wir versuchen, die Dinge anders zu sehen, als sie sind und uns erscheinen, wir versteifen uns sinnlos darauf, dass uns jemand gefällt, der uns von Anfang an wenig gefällt, und dem trauen zu können, der uns das blanke Mißtrauen einflößt, es ist, als handelten wir oft wider besseres Wissen, denn so empfinden wir es viele Male, eher als Wissen denn als Intuition oder Eindruck oder Eingebung, all das hat nichts mit Vorahnungen zu tun, es ist nichts Übernatürliches oder Mysteriöses daran, das Mysteriöse ist, dass wir uns nicht danach richten.


    Als Jaime Deza nun Gelegenheit bekommt, sein Talent als eine Art Profiler in den Dienst des britischen Geheimdienstes zu stellen, scheint eine faszinierende Geschichte auf den Weg zu kommen, ein physiognomischer Agententhriller. Freund Wheeler stellt den Kontakt zu Dezas zukünftigem Auftraggeber namens Tupra her.

    (...) nach einem Monat (...) war meine Mitarbeit vollständig, oder so empfand ich es. Die Modalitäten dieser Aufgaben variierten, ihr Wesen dagegen wenig oder gar nicht, es bestand darin zuzuhören und aufzupassen und zu deuten und zu erzählen, darin, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Charakterzüge und Skrupel, Abneigungen und Überzeugungen, den Egoismus, Ambitionen, Bedingungslosigkeiten, Schwächen, Stärken, Wahrhaftigkeiten und Mißbilligungen zu entziffern... Ich deutete Geschichten, Menschen, Leben. Oftmals noch ungeschehene Geschichten. Menschen, die sich selbst nicht kannten und die nicht ein Zehntel dessen, was ich an ihnen sah (...), über sich hätten vorbringen können, das war die Arbeit.

    Über Tupra, den Chef, heißt es, er sei ein Stratege, wie geschaffen, "Vorkriegswirren zu entschärfen" und "Aufständische zu beschwichtigen". Trotz solcher starken Worte benügt sich die Task Force der "Menschendeuter" und "Geschichtenantizipierer" bis auf weiteres jedoch mit bloßen Übungsspielen des Interpretierens und Verhalten-Vorhersagens. Vorgeladene Menschen werden in beliebiger Folge hinter Spiegelglas ausspioniert. Am ergiebigsten ist dabei noch eine Reprise der komödiantischen Übersetzerszene aus "Mein Herz so weiß", in der – man erinnert sich - zwei Staatsoberhäupter (darunter eine Dame, die stark an Frau Thatcher erinnerte) auf groteske Weise zusammentrafen.

    Jetzt beobachtet Deza einen Abgesandten aus Venezuela, der mit den Geheimdienstleuten verhandelt. Deza soll herausfinden, wie ernst es der zwielichtige Mann mit dem angekündigten Umsturz meint. Würde er gegebenenfalls dem Präsidenten ans Leben gehen? Lohnt es sich, in seine Hintermänner zu investieren? Ihnen einen Putsch zu spendieren? Die Frage spielt in der Folge jedoch keine Rolle mehr. Der von Marías geschilderte Geheimdienst erweist sich als einer im doppelten Sinn – dem Leser bleibt die Aufgabe Dezas ziemlich "geheim". Bis zum Schluß dieses Bandes weiß Deza selbst nicht, was man mit seinen Expertisen anfängt, und ob sie irgendwelche Folgen für irgendwelche Menschen haben.

    Das Umschlagbild des Buches, das aus unerfindlichen Gründen ein Motoradcockpit vor freier Landstraße aus Fahrersicht zeigt, wirkt – man muß es leider sagen - wie ein Hohn auf die mangelnde Dynamik des Buches. Natürlich war Marías nie ein Autor handlungsstarker Romane. Sondern einer, der ein Minimum an Geschehen mit seiner reflexiven Suada immer weiter umkreiste und ausdeutete, so dass es zu außerordentlicher Intensität gesteigert wurde. Umgekehrt sind die Reflexionen dieses Autors auf szenische Beglaubigung angewiesen. Denn oft handelt es sich eher um bohrende Suggestionen als um zwingende Argumentationen. "Warum etwas wissen, wenn nichts von dem, was geschieht, geschieht, weil nichts ununterbrochen geschieht" – über solche eigenwilligen leitmotivischen Formeln konnte man auch in "Mein Herz so weiß" stolpern, aber im Lauf des Geschehens luden sie sich atemberaubend mit Sinn auf.

    Diese Balance von Handlung und Reflexion ist in Dein Gesicht morgen aus dem Gleichgewicht geraten. Jetzt sucht Marías seine Souveränität darin, dass er fast ganz auf Handlung verzichtet. Mit der Konsequenz, dass die Gedanken nun oft wie private Versponnenheiten wirken, weil ihnen die Anschauung und Exemplifizierung fehlen. Die im Untertitel genannten Formeln "Fieber" und "Lanze" bleiben weitgehend leer und blaß, ohne den suggestiven Sog, der sie zu organisierenden Metaphern des Textes machen könnte.

    Vertrauen und Verrat, Erzählen und Schweigen - an großen Themen und Antithesen mangelt es nicht. Auf der Motivebene ist Dein Gesicht morgen eine Kunst der Fuge, auf der Handlungsebene dagegen ein gemischter Salat. Manchmal wirkt es so, als ob eine Sammlung von Fragmenten angestrengt unter einen Nenner gebracht werden sollte. Vor allem fehlen überzeugende Figuren, an denen der Autor und mit ihm auch der Leser Anteil nehmen würde.

    Das Personal besteht zu nicht geringem Teil aus Chargen, wie sie Marías bevorzugt einsetzt, um seine Verachtung der Politik und vor allem der Politiker zum Ausdruck zu bringen. Auf einem ausgiebig beschriebenen Fest hängt sich ein lächerlicher Landsmann namens De la Garza - Karikatur des unsympathischen Diplomaten - wie ein Schatten an Deza und widert ihn mit "phonetischen Barbarismen und Idiotismen" an. Ein Schwachkopf, freilich "mit politischer Zukunft". Hier erinnert man sich daran, dass Marcel Proust - mit dem Marías gelegentlich schon verglichen wurde und dem seine manchmal seitenlangen Sätze offenkundig nacheifern - einen Diplomaten wie den Marquis de Norpois zugleich als lächerliche Gestalt und als Mann von Format schildern konnte. Marías dagegen beharrt darauf, dass diese Leute nichts als Witzfiguren seien, nach der Devise: "In diesen Zeiten triumphieren alle Witzfiguren weltweit." Vielleicht wirkt der Witz des Autors gerade deshalb an vielen Stellen so müde. Ein bißchen zu oft gibt Marias seine Verachtung der Durchschnittsmenschen zu erkennen, egal ob durch den Mund Dezas oder den des vor sich hin grantelnden Sir Peter Wheeler, wie im folgenden Zitat:

    Der klügste Mensch der Welt mag systematischer, angemessener und genauer sprechen, vielleicht mit größerem Nutzen für seine Zuhörer... Aber er wird nicht zwangsläufig besser oder gewandter sprechen als die halb analphabetische Hausfrau, die den ganzen Tag lang nicht eine Sekunde schweigt und am Abend nur, weil der Schlaf und ihre malträtierte, mitgenommene Kehle es ihr gebieten. Der am weitesten gereiste Mensch der Welt wird zahllose unterhaltsame, wunderbare Geschichten, unzählbare Anekdoten und Abenteuer aus unglaublichen, fernen, exotischen und gefährlichen Ländern erzählen können. Aber er wird nicht zwangsläufig mehr oder geläufiger sprechen als der ungehobelte Kneipenwirt, der nie seine Theke verlassen und in seinem Leben nur die zwanzig Straßen und die beiden Plätze gesehen hat, aus denen sein abgelegenes Dorf besteht. Der schwärmerischste Dichter und der rauschhafteste Erzähler mögen aus dem Stegreif hypnotische Wortverkettungen erfinden und rezitieren können, die wie Musik klingen (...). Aber sie werden nicht zwangsläufig mehr oder gelöster oder gewandter sprechen als der ignorante, sich ständig wiederholende, abgestumpfte Büroangestellte, der sich für den König der Späße und Scherze hält und unweigerlich in allen Büros der Welt vorkommt...

    Nur gelegentlich schimmert Marias vielgerühmte psychologische Subtilität durch, wenn er etwa Dezas Angstphantasien hinsichtlich seiner verfallenden Ehe schildert. Ein großes Marias-Motiv ist das Vergessen: als wäre etwas nie gewesen, weil es nicht mehr ist. So macht Deza in erster Linie nicht sexuelle Eifersucht zu schaffen (das wäre ja trivial), sondern der Umstand, dass sich ein anderer Mann an seinem Platz im Madrider Ehe-Alltag installieren könnte, so, als wäre es nie anders gewesen, als hätte er immer dorthin gehört: Plötzlich ist es der andere, der bei der Zubereitung des Abendessens hilft, ist er es, der sich neben die Kinder setzt, um ein Video anzuschauen.

    Leider bleibt es bei solchen knappen Seitenblicken auf Ehe- und Innenleben des Erzählers. Dein Gesicht morgen hat mit der intelligenten Unterhaltungskunst, die Marias zwischenzeitlich – nach einem kräftigen Anschub durch das literarische Quartett – zu einem Lieblingsautor deutscher Leser werden ließ, nicht mehr viel zu tun.

    Zum Interessantesten gehören jene Passagen, die sich mit dem Thema des "careless talk" – der unvorsichtigen Rede – und der britischen Feind-hört-mit-Propaganda des Zweiten Weltkriegs beschäftigen. Zu allem sonstigen Leid sollte den Menschen auch noch die naturnotwendige Neigung zum Sprechen und Schwatzen verboten werden.

    Es war, als würde man den Leuten sagen: Gut, ihr müßt nicht nur den allgemeinen Mangel, die Knappheit und Rationierung ertragen und unter den Bombenangriffen der feindlichen Luftwaffe leiden, ohne zu wissen, wer morgen oder vielleicht schon diese Nacht nicht einmal mehr durch das Sirenengeheul aufwachen wird; ihr müßt nicht nur erleben, wie eure Häuser nach den Blitzen und dem Donner im Nu in Flammen aufgehen oder in Trümmer gelegt werden und euch stundenlang in den tiefen Luftschutzkellern verstecken, um nicht in euren Straßen zu verglühen, ihr müßt nicht nur den Verlust eurer Ehemänner und Söhne und in jedem Fall ihre Abwesenheit und die quälende Furcht um ihr tägliches Überleben oder ihren täglichen Tod erleiden; ihr müßt nicht nur Flugzeuge besteigen, damit sie euch angreifen, wenn ihr in der Luft kämpft, und euch in wilden Manövern abschießen, nicht nur in Unterseebooten und Zerstörern und Panzerkreuzern in fernen, flammenden Wassern untergehen und im Inneren eines Panzers ersticken oder verbrennen und mit dem Fallschirm über besetztem Gebiet abspringen und euch dem Feuer der Batterien aussetzen (...) und euch nicht nur in Stücke reißen lassen, wenn euch das schlimme, aber mögliche Los wiederfährt, von einem Mörser oder einer Granate getroffen zu werden (...) - von all dem abgesehen müßt ihr schweigen. Sprecht nicht mehr, erzählt nicht mehr, scherzt nicht mehr (...)

    Kein Zweifel, da wuchert die Rhetorik virtuos – und dabei hat diese gekürzte Kostprobe gerade mal ein Drittel des ganzen Satzes im Buch umfaßt. Aber so eindrucksvoll sich einzelne Partien des Romans lesen, aufs Ganze gesehen wird die Lektüre zur Enttäuschung. Vielleicht hat der Autor im zweiten Band noch starke Trümpfe in der Hinterhand. Die stilistischen Einbrüche des ersten wären auch dadurch nicht wettzumachen. Der Sprachkünstler Javier Marías liest sich hier manchmal wie eine schlechte Übersetzung: "Es gibt Dinge, für die man Faulheit entwickelt...", heißt es. Passagenweise wirkt die Prosa schlicht verfaselt:

    Niemand will sehen, was man sehen muß, niemand wagt hinzusehen, schon gar nicht eine Wette einzugehen oder zu wagen, sich zu wappnen, vorauszusehen, Urteile abzugeben, von Vorurteilen ganz zu schweigen, was ein kapitaler Affront ist, oh, das ist Menschheitsbeleidigung...

    Nicht wenige Sätze sind grammatisch schlampig oder gedanklich kraus, schlimmstenfalls beides zugleich:

    Diese Epoche ist so hochmütig, Jacobo, wie es keine andere gegeben hat, seitdem ich auf der Welt bin (Hitler kannst du vergessen), und ich kann mir schwer vorstellen, dass es sie vorher gegeben haben mag.

    Bei den ausufernden Gesprächen zwischen Deza und Wheeler, die einen großen Teil des Buches einnehmen, fragt sich der Leser gelegentlich, worauf das denn nun hinauswill, und prompt heißt es dann im Text: "Sie werden mir verzeihen, Peter, aber ich muß Ihnen leider gestehen, dass ich nicht ganz verstehe, was Sie mir sagen wollen." Worauf Wheeler entgegnet: "Ich weiß, ich weiß. Es scheint, als würde ich ungreimtes Zeug reden, aber ich rede kein ungereimtes Zeug, nicht wirklich." Kurzum: Marias scheint sich der Schwächen seines Werkes durchaus bewußt zu sein.

    An einer Stelle ist von Künstlern in der Erfüllungsfalle die Rede. Sie haben Angst, "nicht auf der Höhe ihrer selbst zu sein"; die durch eigene herausragende Werke geweckten Erwartungen lasten schwer auf ihnen. "Denn jetzt bleibt mir nichts anderes übrig", denkt ein solcher Künstler, als "jedes Mal dieses verdammte Niveau zu erreichen, um nicht hinter mich selbst zurückzufallen, wie furchtbar..." Leider kommt man nicht umhin, diese Sätze auf den Roman, in dem sie stehen, zu beziehen. Das Mitleid des Lesers hält sich allerdings in Grenzen. Denn er ist der Geschädigte.


    Javier Marías
    Dein Gesicht morgen. 1 Fieber und Lanze
    Klett Cotta, 488 S., EUR 24,50