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Kunst, die Teilnahme erzeugt

Der chilenische Künstler Alfredo Jaar reist um die Welt, zeichnet Menschenschicksale auf und fotografiert sie. Er nimmt diese Fotografien mit in seine Wahlheimat New York und erarbeitet aus ihnen multimediale Rauminstallationen. In Berlin zeigt die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst seine Arbeiten gleichzeitig in drei Institutionen.

Von Carsten Probst | 27.06.2012
    "Gutete Emerita, 30 Jahre alt, besuchte gerade eine Messe mit ihrer Familie, als das Massaker begann. Ihr Ehemann und ihre beiden Söhne wurden vor ihren Augen mit Macheten getötet. Sie selbst schaffte es irgendwie mit ihrer zwölfjährigen Tochter, zu fliehen und sich in nahegelegenen Sümpfen zu verstecken. Drei Wochen lang kamen sie nur nachts heraus, um nach Nahrung zu suchen. Ich erinnere mich an ihre Augen, die Augen von Gutete Emerita."

    Ein kurzer Bericht aus dem Bürgerkrieg in Ruanda von 1994 bildet die Einleitung zu der Installation von Alfredo Jaar: Ein dunkler hoher Raum, in dem ein riesiger Leuchttisch steht, die Tischplatte erstrahlt in grellem weißem Licht, das aber nur teilweise durch den gewaltigen Haufen von Dias hindurchdringt, der sich in der Mitte des Tisches auftürmt. Nur an den Rändern erkennt man, dass alle Dias dasselbe Motiv zeigen, ein Augenpaar, das abwesend und zugleich angstvoll ins Leere starrt.

    Die Art der Inszenierung ist kennzeichnend für die Arbeiten Alfredo Jaars der letzten zwei Jahrzehnte: Teilnahme erzeugen, ein intellektuelles Sich-Einlassen herausfordern, so beschreibt er selbst seine Intentionen. Jaars Ruanda-Projekt, das über einen Zeitraum von fünf Jahren entstand, enthält zahlreiche solcher Momente des Gedenkens an das Leid der Opfer, der Appelle an die Menschlichkeit, die Installationen versuchen etwas wachzurufen beim Publikum, woran der gebürtige Chilene mit Wohnsitz in New York zeitweilig selbst nicht mehr geglaubt hat. Das Ruanda-Projekt bildet eine Zäsur in Jaars Werk. Angesichts des Ruanda-Völkermords notiert er, der einst in den 70er-Jahren als Jugendlicher vom Putsch des chilenischen Militärs unter Augusto Pinochet gegen die sozialistische Regierung Salvador Allendes politisiert wurde: "Leider realisiere ich, dass ich meinen poetischen und utopischen Idealismus von damals verloren habe." Die Genozide des 20. Jahrhunderts hätten ihn einen anderen belehrt in Bezug auf die wahre Natur des Menschen.

    Während die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst im Herzen Kreuzbergs Jaars hierzulande kaum je gezeigtes Frühwerk als Künstleraktivist der 70er- und 80er-Jahre ausbreitet, widmet sich die weiträumige Ausstellung in der Berlinischen Galerie jenen Arbeiten, die auf Jaars Berlin-Aufenthalt als Stipendiat des DAAD 1992/93 zurückgehen, mithin in jener Phase, in der sich der Umbruch in seinem bis dahin links-idealistischen Weltbildes vollzog. Die Transformation dieses Werkes ist aufschlussreich für eine Zeit, in der auch die künstlerische Linke in Europa nach neuen Orientierungen suchte und im Gegensatz zu Alfredo Jaar oftmals keine überzeugende neue "Ästhetik des Widerstandes" formulieren konnte. Der Titel dieses 1000-seitigen Romanwerkes von Peter Weiß, das zwischen 1971 und 1981 entstand, ist für Alfredo Jaar bis heute Programm: Vom links-idealistischen Aktivismus zum poetischen Kampf im Namen der Humanität.

    Medien- und bildkritische Arbeiten mischen sich mit Elementen der eigenen politischen und historischen Recherche. Die Installationen greifen immer wieder auf die Gegensätze von grellem Licht und tiefer Dunkelheit zurück und sollen so Bühnen bilden für eine sinnliche und zugleich meditative Verwicklung ins Nachdenken. Emotional am meisten ergreift dabei die Video-Licht-Installation "Sound of Silence" von 2006, bei der der Besucher eine dunkle Kammer betritt und auf eingeblendeten Lesetafeln die Geschichte des Fotografen Kevin Carter erfährt, dessen 1993 im Sudan geschossenes Foto von einem hungernden Kind, hinter dem ein Geier gelandet war, um die Welt ging. In Jaars Installation prallen die Welten des südafrikanischen Fotografen und Pulitzer-Preisträgers, der später Selbstmord beging, des fotografierten Kindes und der Rechteverwerter an dieser Aufnahme aufeinander. Das Bild gehört heute der Corbis, dem von Bill Gates gegründeten, weltweit größten Rechteverwerter für Fotografien.

    Eines der zentralen Motive in Peter Weiß' "Ästhetik des Widerstands" ist das Schlachtenpanorama der kämpfenden Giganten auf dem Pergamonaltar im damals noch Ost-Berliner Pergamonmuseum. Alfredo Jaar hat es nach dem Mauerfall aktuell umgedeutet und 1993 die Namen deutscher Städte auf die Stufen des Pergamonaltars geschrieben: Rostock, Mölln, Solingen, Lübeck und viele andere, in denen es zu neuen Pogromen gegen Ausländer gekommen war. Mit der Finanzkrise und den Konflikten von Afghanistan bis Syrien sind die Themen für Jaar, den letzten großen Aufklärer neben Hans Haacke in der Gegenwartskunst, nicht weniger geworden.