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Kunst, die unter die Haut geht

Wer Natascha Stellmach an sich ran und unter seine Haut lässt, macht eine Kunst-Erfahrung der besonderen Art. Die Künstlerin tätowiert – und zwar in einer Galerie. Sie macht "Inkless Tattoos", die nicht bleiben.

Von Andreas Main | 10.07.2013
    "Nein, siezen ist doof. Ich kann das gar nicht auch. Ich bin Australierin, ist besser, wenn wir duzen, oder?"

    "Was möchtest Du wirklich loslassen?" – So steht es auch im Schaufenster. Das ist die zentrale Frage, aufgetragen von Natascha Stellmach in Pink:

    "Was möchtest Du loslassen? Darum geht's."

    Und das, was ich wirklich loswerden will, das wird eintätowiert.

    "Hast keine Tattoos, ne? Es tut eigentlich viel weniger weh, als jeder denkt. Und meistens sagen die Leute dann: Hey, was es ist zu Ende?"

    Aus dieser Nummer gibt es kein Entrinnen und warum auch? Schon ein paar Dutzend Frauen und Männer haben diese Kunst-Happenings überlebt, mal ganz abgesehen von Millionen rund um den Globus mit richtigen Tattoos.

    "Wir sitzen hier an einer Fensterbank - und eigentlich sehen wir hier den Strausberger Platz. Da fahren Fahrräder vorbei, da stehen auch ein paar Leute rum und gucken rein - und denken, was ist hier denn los? Ist es ein Kosmetikstudio, ist es eine Galerie, was ist es? Was machen die da drin?"

    Doch für die da drin sind die da draußen weit weg, obwohl nur durch eine Scheibe getrennt.

    "Let me get under your skin. Guck, die Krankenwagen kommen schon. The ambulance is coming - nur für Dich."

    Wir reden mindestens 20 Minuten über das, was es loszulassen gilt. Dann entscheiden wir uns: für den linken Oberarm und für sieben Buchstaben. Die sollen es werden, ein "u" ist dabei, auch ein "t". Der Rest ist Schweigen, weil zu privat.

    "Ich hab auch in letzter Woche 'Eng' tätowiert. Diese Idee von Strenge, auch so ein kleines Wort wie eng: e-n-g. Ich fand das genial, ganz schön."

    Andere haben sich Wörter wie "Zwänge" oder "Sehnsucht" oder "Duell" tätowieren lassen. Kunst, die unter die Haut geht - oder: Die Künstlerin an mich ran und an meine Haut lassen. Daran geht kein Weg mehr vorbei.

    "Und ich versuche auch, so sanft wie möglich diese kleine Wortkratzer in Dir zu schreiben. Eigentlich ist es das: Es ist wie, als ob jetzt 'ne Katze ein Wort auf Deine Haut schreibt."

    "Aber ich kann mir auch was drauf einbilden: Meine Haut wird zur Leinwand."

    "Ja, das wird es auch. Was ich toll finde, dass aus deiner Haut wird plötzlich irgendwas sichtbar, das du so total verinnerlicht hast, dass vielleicht du ein bisschen jeden Tag verdrängst. Und das kommt plötzlich raus."

    "Ich bin ja eher der Kandidat, der beim Arzt, wenn es um die Spritze geht, wegguckt. Und jetzt das."

    "Okay. Vorsicht ratsch. Wir müssen das noch ein paar Mal machen. Ein bisschen Wachs dazu. Hups."

    Und schon sind die Härchen entfernt. Natascha Stellmach trägt High Heels. Sie nennt das Berufskleidung:

    "Okay, bist bereit?"
    "Ja."

    "Super."

    "Und ich gucke doch am Anfang lieber weg."

    "Ja, ich kann beschreiben, was so losgeht. Und was spannend ist, man weiß nie, was passiert. Weil, jede Haut ist, anders. Manchmal blutet es gar nicht - oder blutet mehr oder weniger. Ich bin gespannt, was hier passiert. Viele Leute sind wirklich süchtig nach Tattoos. Denn das gibt auch danach einen wahnsinnig schönen Endorphin-Rush. Okay, jetzt fangen wir an."

    "Ey, ey, ey."

    Es ist harmloser als gedacht. Blutabnehmen ist weitaus schlimmer. Beim zweiten Buchstaben traue ich mich, auch zuzusehen.

    "Jetzt, wenn du guckst, kommt ein bisschen mehr Blut. Wahnsinn. Guck, das 'S' ist so schön."

    Zu sehen ist eine Schwellung, darauf blutrot leuchtend die Buchstaben. Auf jeden Fall ein deutlich lesbarer Schriftzug. Wobei es hier nicht um klassisch Schönes geht, und schon gar nicht um Mode oder den letzten Tattoo-Schrei.

    "Nein, denn es sieht auch gar nicht hübsch aus. Es ist nicht 'ne hübsche Schrift oder so geschnörkelt oder schön. Es geht meistens um irgendwas, was man nicht für eine Ewigkeit an die Haut haben möchte. Es geht wirklich um Vergänglichkeit, um Katharsis, ja. Um eine neue Form davon."

    Katharsis, Reinigung. Womöglich wird hier die Künstlerin zur Heilerin, zur Schamanin, auch wenn sie das so nie von sich behaupten würde. Aber sie hofft schon, dass sich der Dämon, von dem sich der Tätowierte befreien will, in den kommenden Wochen ebenso verflüchtigt wie das tintenlose Tattoo, das zunehmend verblassen wird.

    "Wir sind beim letzten Buchstaben. Bald kicken die Drogen rein, die natürlichen Drogen, das ist toll."

    Weitere Tattoo-Happenings finden jeweils freitags statt in der Galerie Wagner und Partner am Strausberger Platz in Berlin-Mitte. Bis Ende August 2013. Ebenso lang ist dort auch die Ausstellung von Natascha Stellmach zu sehen.