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Kunst und Kindesmissbrauch

"Eine Versuchsanordnung" nennt Regisseur Sebastian Nübling das Stück "Furcht und Zittern": "Wir nehmen einen Pädophilen, holen den raus aus seiner Höhle, setzen den mit Kindern in einen Raum und gucken, was passiert." Zwar hat Händl Klaus etwas beizutragen zur deutschsprachigen zeitgenössischen Dramatik. Doch bei diesem Stück bleibt ein flaues Gefühl in der Magengegend.

Von Karin Fischer | 13.09.2008
    Die RuhrTriennale lässt ja nichts unversucht, um sich den Himmel der Theateravantgarde zu sichern. Mithilfe eigens erdachter "Kreationen" und der grandiosen Atmosphäre ehemaliger Industriehallen gelingt das auch oft. Man hat hier schon ein Singspiel vor riesigem Alpenpanorama gesehen, die Novität eines "Fußball-Oratoriums" gehört oder wurde auf alten Loren auf ganz neue Pfade der Performance-Kunst geführt.

    Jetzt hat die RuhrTriennale zum Äußersten gegriffen und die zwei absoluten NoNos des Theaterbetriebs - die lauten: keine Kinder, keine Tiere! - zusammen auf die Bühne gebracht. Sebastian Nübling inszenierte nämlich Kinder als Tiere, als Dressurpferdchen in einem Zirkus. Die Mädchen tragen goldenes Ballettdress und Zierkrönchen auf dem Kopf, die Jungen schwarze Anzüge, eine blonde Schönheit mit Reitpeitsche gibt Kommandos, und sie singen Lieder, zum Beispiel "Piloten ist nichts verboten", in dem es auch um einen "Steuerknüppel" geht.

    Die Texte der Kinder sind krude, voller gewalttätiger Erlebnisse und sexuell deutbarer Bilder. Sie reiben sich, aber nur auf den ersten Blick, krass mit der frivolen Künstlichkeit der Zirkusarena, in die Nübling die Geschichte verfrachtet hat. Die gibt eine prima Bühne für Slapstick und eine lustige Zirkusband her, für die Lars Wittershagen Chansons, Kinderlieder, Märsche oder schräge Schlager geschrieben hat.

    In der Arena, die Muriel Gerstner als erhöhtes Rund in Rot-Schwarz mit einem durch einen roten Samtvorhang zu schließenden kleinen Pavillon entworfen hat, wird Manfred Horni als Pädophiler vorgestellt, der sich als Gesangslehrer an einem Jungen vergriffen haben soll, deshalb zwei Jahre im Gefängnis saß und sich künftig von Kindern fern halten soll. Jetzt wird gegenüber seinem Haus ein Kinderheim gebaut, was die Polizei auf den Plan ruft, die ihn morgens um vier zum Auszug zwingt. Doch eine neuerliche Prüfung durch jede Menge Kinder ist nicht weit. Soweit die nachvollziehbare Geschichte.

    Doch Händl Klaus und Sebastian Nübling hatten keine moralische Abhandlung im Sinn. In der schwülen Zirkusatmosphäre wird Horni nackt, wie ein Tanzbär auf einem Podest, vorgeführt. Jochen Noch spielt ihn mit hängenden Schultern als Opfer seiner Triebe und der Gesellschaft. Die ist entweder prüde bis zur Hysterie, ziemlich gewalttätig wie die blonde "Pädagogin" oder unmissverständlich sexualisiert wie das Polizistenpärchen Stefanie und Martin, von Wiebke Puls und Paul Herwig mit gelenkigem Charme und akzeptablen Singstimmen flott hingelegt.

    Dass trotzdem das Gefühl überwiegt, man wohne im Salzlager der Kokerei einer großen Bild- und Tonstörung bei, liegt am Text. Der wird im für Händl Klaus typischen circensischen Wechselsprech vorgetragen und spricht inhaltlich jeder heiteren Zirkusnummer Hohn. Falls der Autor das Abgründige durch Absurdität steigern wollte, ist ihm das jedenfalls gelungen.

    Händl Klaus hat nämlich ein furchtbar trauriges, im Stakkatoton zum Gedicht mutierendes, aber verstörendes und unterschwellig extrem grausames Libretto verfasst, das alle Schuldzuweisungen ad absurdum führt. Es gibt hier kein Unbedenklichkeitszeugnis, für niemanden.

    Wie der Gesangslehrer Manfred Horni wird deshalb letztlich auch der Zuschauer am Nasenring durch die Arena geführt. Der brennende Reifen, durch den er zu springen hat, ist die irritierende Aufgabe, Kunst und Kindesmissbrauch zusammen denken zu müssen.

    Mehr als man selbst tun einem aber die Kinder leid, die - altklug bis zur Schmerzgrenze - dieser Kunst als Exerzitium ausgesetzt sind. Die Frage, ob das auch schon unter "Missbrauch" fällt, geht im ebenso angestrengten wie albernen Kunstgestus und im Getöse dieser Aufführung unter.