Donnerstag, 28. März 2024

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Kunstliebhaber und reisender Dichter

Sylt und Nizza sind zwei Lebensorte des Schriftstellers Fritz J. Raddatz. Beiden gegenüber hat er seine Liebe in Büchern bekundet, im neuesten Buch steht dies auch im Titel: "Nizza mon amour". Die Grundhaltung dieses Flaneurs besteht darin, seinen Wahrnehmungen viel Raum zu geben.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 17.05.2010
    ""Nun ist man alt und hat das Leben abgeschritten.”"

    Ein leicht melancholischer Seufzer inmitten größter Freude über den Farbrausch und den Gesang der Liebe in Marc Chagalls Bildern. Bekenntnisse zur Ergriffenheit und Übertreibung, zur Freude am Rausch der Farben und der Speisen liegen Fritz J. Raddatz' weit ausschweifenden Wanderungen und Fahrten durch Nizza und Umgebung zugrunde. Ein Weltbürger, oft auch ein ganz dem Praktischen zugewandter Reiseführer, ist hier unterwegs, ein Kosmopolit, der seine Impressionen vor Ort mit Gedanken an Paris oder New York verknüpft. Man sieht einen Kunstliebhaber und reisenden Dichter vor sich, der gerne wie ein Schmetterling durch die Gegend flöge und der Hölderlins Ausruf "Komm ins Offene, Freund” oder Michel Leiris' Leichtigkeit im Ohr zu haben scheint. Leiris:

    "Mich leichtmachen
    alles ablegen ...
    ein geiziger vogel will ich werden
    trunken allein vom flug seiner fittiche.”


    Der 1931 geborene Essayist, Romancier und Autor zahlreicher Biografien Fritz J. Raddatz hat mit seinem Buch "Nizza mon amour" der italienischsten aller französischen Städte eine poetische, von Wehmut über die Zerstörungen getrübte Liebeserklärung gemacht, geschrieben in enger Vertrautheit mit den Menschen, der verworrenen Geschichte dieser Stadt und ihrer höchst merkwürdigen Sprache, dem "Nizzardisch”.

    Die Grundhaltung dieses Flaneurs besteht darin, seinen Wahrnehmungen viel Raum zu geben, das Schöne und Erhabene festlich zu feiern und so dem "lärmigen Hexenkessel”, den um sich greifenden Tendenzen zum Hässlichen und Geschmacklosen in der Architektur und in den Umgangsformen etwas Starkes und einen inneren Reichtum entgegenzusetzen.

    "Nizza ist eine große siebenschwänzige Katze: mal auf Sammetpfoten und mal krallenkratzig; mal liebevoll schnurrend und mal fauchend; mal schmeichlerisch sich anschmiegend mit seidenem Fell und mal gesträubt wütig - dem eigenen vitalen Rhythmus untertan und sonst niemandem. Stolz, verschwiegen, rätselhaft und lasterhaft.”

    Fritz J. Raddatz schreibt immer aus dem Gefühl der Nähe zu einem Gegenstand, einem Ort, einer Landschaft oder einer Person. Er lässt sich erst einmal berühren, bevor er in Distanz geht. Daher der Schwung und die Emphase des Anfangs seiner Texte.

    So beginnt sein Buch über Gottfried Benn:

    "Paukenschlag, Magnesiumblitz und Donnerpolter: da sprang einer auf die Bretter, die die Welt bedeuten ...”

    Oder seine meisterliche Autobiografie Unruhestifter mit kurz einsetzenden biografischen Verortungen: "Da saß ich”, "Da lebte ich”, "Da war ich”, hinführend zu ersten Selbstbestimmungen:

    "... ein Irrläufer in verzagendem Hochmut, der seine Traurigkeit in Trotz ummünzte ... Auf mich hat sich nie etwas gereimt.”

    Und nun also, nach einer einfühlsamen Rilke-Biografie, das Buch über Nizza:

    "Nizza? Nizza gibt es nicht. Es gleicht jenem berühmten Fächer mit dem Mallarmé-Gedicht, dessen Zeichen geheimnisvoll bleiben, der erst auseinandergefaltet seine Wortgeheimnisse preisgibt.”

    "Auseinandergefaltet”, das ist das Zauberwort in dieser Recherche. Es ist die spielerische Freude an Formulierungen, Analogien und Bildern, die den Leser von Anfang an zum Mitreisenden macht. Fritz J. Raddatz zeigt sich in seinen Reise-Texten wie auch in seinen Biografien und seiner Autobiografie als ein gleichermaßen von der Beobachtung des Gegenwärtigen wie von der Erinnerung an die Geschichte, bis in kleinste Details hinein, geprägter Autor, der - im Fall des Nizza-Buches - dieser Stadt den schlierenhaften Spiegel des Großartigen und des Verunstalteten vorhält, der durch den "blanken Horror” des Autoverkehrs immer wieder durchdringt zur "Verzückungsspitze der Welt”, wie Nietzsche Nizza einmal nennt.

    Dieses Buch gibt, eher passager, auch einen Einblick in ein Stück deutscher Geschichte und Literaturgeschichte. Die Mittelmeerküste war während des Nationalsozialismus Zufluchtsort vieler Emigranten:

    "Die Zimmer der emigrierten Schriftsteller waren ärmlich und leer. Die Köpfe waren es nicht.”

    Da lebten nun Autoren, die sich am liebsten aus dem Wege gegangen wären, auf engstem Raum zusammen. Raddatz erzählt von dieser spannungsgeladenen Atmosphäre und von dem, wie er es nennt, "Irrsinn einer wildgewordenen Gleichzeitigkeit”: dem abrupten Wechsel zwischen erbärmlichen Lebensbedingungen, geistigen Aktivitäten, Denunziationen und Verhaftungen. Der Übergang von der Erinnerung an diese Dramatik zum heutigen Stranderlebnis und zu praktischen Empfehlungen, zum Leben der Schönen und Reichen, zur Beschreibung der scheußlichen Hochhausgebilde, der McDonald's-Paläste, des Besuchs im Picasso-Museum in Antibes und anschließender Gaumenfreuden erscheint dann etwas unvermittelt.

    Am Ende sind es die Museen und die in ihnen ausgestellte Kunst sowie die sich dahinter verbergenden Lebensgeschichten und Verknüpfungen, die Raddatz am tiefsten berühren.