Freitag, 19. April 2024

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Kunstlied-Debüt von Elīna Garanča
Angekommen

Vielen Opernsängerinnen und -sängern fällt das schwer, Elīna Garanča aber meistert ihr Debüt als Liedsängerin. Die kleine Form füllt sie mit liedhaftem Gestus und bringt ihre Stimmqualitäten voll ein. Leuchtend hoch bis samtig tief interpretiert sie Lieder von Schumann und Brahms.

Am Mikrofon: Christoph Vratz | 08.11.2020
    Eine Frau mit blonden Haaren sitzt in einem Abendkleid in einem roten Samtsessel und schaut nach rechts aus dem Bild in Richtung eines Fensters.
    Elīna Garanča hat ihr erstes Lied-Album mit dem Pianisten Malcolm Martineau eingespielt. (Holger Hage/DG)
    Arien- und Opernalben: ja, Lied-Produktionen: nein. So liest sich die bisherige diskographische Lebensleistung der Mezzosopranistin Elīna Garanča. Jetzt aber wagt sich die Lettin erstmals mit einer CD auf das Feld des Kunstliedes.
    "Wir sind dort mit unseren persönlichen Gefühlen ganz für uns, ohne direkten Kontakt zum Gegenüber zu haben. Sehnsucht und Fantasie haben im Lied keine Grenzen", so Garanča. Ausgewählt hat sie, an der Seite ihres Pianisten Malcolm Martineau, ausschließlich romantisches Repertoire: Werke von Johannes Brahms und Robert Schumann.
    Musik: Robert Schumann - "Seit ich ihn gesehen"
    "Seit ich ihn gesehen, Glaub ich blind zu sein." Im August 1830 hatte Adelbert von Chamisso diese Zeilen im "Musenalmanach für das Jahr 1831" veröffentlicht. Es ist der Beginn eines neunteiligen Zyklus, in dessen Zentrum keine große Heldin steht, sondern eine namenlose Frau: einfach, scheu, von Liebe erfüllt. Gezeigt wird sie in ihren unterschiedlichen Lebensstationen: als Verlobte, als Braut, Schwangere, Mutter, Witwe, Großmutter.
    Frauenliebe im Liederjahr
    Franz Kugler war der erste Komponist, der diese Gedichte in Musik gesetzt hat, gefolgt von Carl Loewe - und Robert Schumann, der "Frauenliebe und Leben" in seinem so genannten "Liederjahr" 1840 komponiert hat. Für Schumann war dieses Jahr in doppelter Hinsicht von einschneidender Bedeutung: privat, weil der Versuch seines Schwiegervaters Friedrich Wieck endgültig gescheitert war, die Ehe zwischen Clara und Robert juristisch zu verhindern; künstlerisch, weil 1840 die großen Lied-Zyklen wie "Myrthen", die "Liederkreise" nach Heine und Eichendorff, "Dichterliebe" und eben "Frauenliebe und Leben" entstanden sind.
    Musik: Robert Schumann - "Er, der Herrlichste von allen"
    Gleichmäßig vollgriffige Akkorde hat der Pianist in diesem zweiten Lied zu spielen, aber – und das ist die Schwierigkeit – leise, piano, zumindest am Anfang. Für Malcolm Martineau ist dies, nach einer Studioproduktion 2005 (mit Ann Murray) und einem Konzertmitschnitt 2014 (mit Christiane Karg), bereits die dritte Produktion von Schumanns "Frauenliebe und Leben". Er verleiht den Eingangsakkorden von "Er, der Herrlichste von allen" einerseits eine fast choralartige Schlichtheit, andererseits bindet er sie so geschickt aneinander, dass sich dadurch der Charakter des Geheimnisvollen ergibt. An den Stellen, wo die Sängerinnenstimme schweigt, übernimmt dann das Klavier auch für kurze Momente einfühlsam die Melodie.
    Exzellenter Mischklang, undeutliche Textgestaltung
    Elīna Garančas warme Mezzo-Stimme fügt sich mit Martineaus Klavierbegleitung auf exzellente Weise: sowohl was die Abstimmung der Lautstärken betrifft als auch die Art, wie Aussage, Geheimnis und Farb-Charakter miteinander in Einklang gebracht werden. Wenn ich einen Teil dieser Eingangs-Sequenz jetzt noch ein weiteres Mal einspiele, dann richtet sich der Fokus vor allem auf die Textgestaltung bei Garanča. "Holde Lippen, klares Auge, heller Sinn und fester Mut" heißt es bei Chamisso. Allerdings geht die Formung harter Konsonanten wie bei "Lip-pen" ein wenig verloren, auch die Trennung von Wörtern wie "klares Auge" verwischt.
    Musik: Robert Schumann - "Er, der Herrlichste von allen"
    Die mitunter undeutliche Textgestaltung zieht sich ein wenig wie ein roter Faden durch diese neue Aufnahme. Auch im nächsten Lied, das auf fast rezitativisch-sprechgesangartige Weise beginnt: "Ich kann’s nicht fassen, nicht glauben".
    Musik: Robert Schumann - "Ich kann’s nicht fassen, nicht glauben"
    So vage an einigen Stellen auch der Text bleibt (weil Garanča Wort-Enden zu weich, oder Anfangsbuchstaben wie "Nimmer" zu zaghaft betont) – so überzeugend ist ihre Arbeit am musikalischen Detail. Sie rundet Phrasen sehr natürlich ab: Wenn Schumann ein "ritardando" vorgibt, dehnt sie behutsam, aber nie künstlich; wo sich Harmonien auf subtile Art verschieben, wechselt Garanča eindringlich die Farben. Diese sehr feine Art der Gestaltung zeigt sich beispielsweise im leise zu singenden Mittelteil des fünften Liedes "Helft mir, ihr Schwestern":
    "Bist, mein Geliebter, du mir erschienen..." Dort, wo von "Wehmut" die Rede ist, greift Schumann wieder Motive aus dem ersten Liedteil auf. Diesen Abschnitt markiert er durch Veränderung der Tonart, durch eine Verzögerung und eine neu gestaltete Klavier-Begleitung. All das wird hier von Garanča und Martineau auf exemplarische Weise hörbar gemacht.
    Musik: Robert Schumann - "Helft mir, ihr Schwestern"
    Trotz dieser überzeugenden und sehr differenzierten Gestaltung möchte ich diese Passage anhand einer Vergleichsaufnahme noch einmal einspielen, diesmal gesungen von Brigitte Fassbaender, begleitet von Irwin Gage, aufgenommen im Jahr 1984.
    Musik: Robert Schumann - "Helft mir, ihr Schwestern" (Brigitte Fassbaender, Mezzosopran, Irwin Gage, Klavier)
    Schumann hat dieses Lied mit "Ziemlich schnell" überschrieben. Dass diese Vorgabe sich nicht allein an einer nackten Zeitangabe bemessen lässt, zeigt dieser Vergleich. Fassbaender wie Garanča brauchen ziemlich genau 2 Minuten für dieses Lied. Doch den inneren Erregungszustand, die nervöse Freude der Braut, die an der gehörten Stelle in Bangigkeit umzuschlagen droht, das klingt bei Fassbaender dringlicher und aufgeregter als bei Garanča. Sie lässt in diesem "Ziemlich schnell" auch ein latentes "Moderato" mitschwingen.
    Lupenreines Legato zeichnet Garanča aus
    Nun bietet die Aufnahmegeschichte von Schumanns "Frauenliebe und Leben" ohnehin eine stattliche Auswahl an guten und sehr guten Einspielungen, von Elly Ameling bis Dorothea Röschmann, von Lisa della Casa bis Bernarda Fink. Trotz der genannten Einschränkungen darf man auch Elīna Garanča zum Kreis dieser Sängerinnen zählen, vor allem weil die Lettin mit einem lupenreinen Legato singt, wie hier in "An meinem Herzen, an meiner Brust". Schade nur, dass die wogenden Begleitfiguren des Klaviers etwas verwischen, doch das scheint auch der leicht halligen Klangqualität geschuldet.
    Musik: Robert Schumann - "An meinem Herzen, an meiner Brust"
    Anders als bei Chamisso, wo der Zyklus neun Gedichte umfasst, endet Schumanns Vertonung mit dem achten Lied, mit der Trauer über den verstorbenen Ehemann. Garanča gestaltet das mit dunklen Farben, die vor allem dank der Vokale bei "Schmerz" oder "schläfst" an Eindringlichkeit gewinnen.
    Musik: Robert Schumann - "Nun hast du mir den ersten Schmerz getan"
    Brahmssche Liedpalette auf dem zweiten Teil der CD
    Der zweite Teil der neuen Aufnahme mit Elīna Garanča und Malcolm Martineau ist ausgewählten Liedern von Johannes Brahms gewidmet. Der Brahmssche Werkkatalog umfasst etwas mehr als 120 Einträge. Über vierzig Werke, also mehr als ein Drittel, sind Liedsammlungen für eine, zwei oder vier Stimmen mit Klavier-Begleitung. Über einen Zeitraum von mehr als 45 Jahren hat Brahms ab 1845 damit mehr als 200 Lieder komponiert. Obwohl Brahms keine Einblicke in seine Schreibwerkstatt duldete, steht heute fest, dass er schon in sehr jungen Jahren erste Lieder komponiert hat, ohne jedoch im Geringsten an eine Veröffentlichung zu denken. Die auf der neuen CD aufgenommenen 13 Lieder decken eine Spanne zwischen dem frühen op. 3 und der Gruppe op. 107 aus den späten 1880er Jahren ab.
    Musik: Johannes Brahms - "Liebestreu" aus op. 3
    Das Lied "Liebestreu" zeigt Garančas große stimmliche Bandbreite - sicher ihr Fundament in der Tiefe, das eindrucksvolle Eindunklungen ermöglicht; und auf der anderen Seite eine organisch eingebundene Höhe, die ungetrübt leuchten und strahlen kann, ohne grell zu wirken. Zwei weitere Lied-Anfänge sollen diese beiden Qualitäten zeigen. Beide Abschnitte könnten in ihrem Charakter unterschiedlicher kaum sein: hier zunächst das hell-jugendliche "Mädchenlied".
    Musik: Johannes Brahms - "Mädchenlied" aus op. 107
    Von der hohen Tonlage nun zum Lied "Von ewiger Liebe" und dem eindringlich gestalteten "Schweigen der Welt".
    Musik: Johannes Brahms - "Von ewiger Liebe" aus op. 43
    Ob leuchtend in der Höhe oder samtig-dunkel in der Tiefe: Bei Elīna Garanča gerät die Stimme nie aus ihrem sicheren Fokus. Auch im ungestützten Piano rutscht die Stimme nicht nach hinten oder zeigt Schwankungen in der Intonation. Umgekehrt mimt Garanča die lauten Passagen nicht wie eine Opernsängerin, sondern bleibt beim liedhaften Gestus. Der Gleichklang, der mit Malcolm Martineau entsteht, überzeugt bei Schumann ebenso wie bei Brahms. Aus dem schlichten Klopfmotiv am Beginn von "Ich muss hinaus" aus op. 3 entwickeln beide Musiker eine Aufgeregtheit, die sich in unterschiedlichen Emotionen äußert. Mal grenzt das Lied im Forte fast schon an Überschwang, mal wirken Töne und Silben wie vorsichtige einzelne Tupfer.
    Musik: Johannes Brahms - "Ich muss hinaus" aus op. 3
    Gerade die ausgewählten Brahms-Lieder zeigen, dass eines von Garanča Hauptanliegen darin liegt, "ganz unterschiedliche vertonte Gefühlszustände nebeneinanderzustellen", wie sie sagt. Das gelingt ihr, indem sie die musikalische Bindung meistens gegenüber der expressiven Wortgestaltung vorzieht. Was sich, wie bereits bei Schumann gezeigt, gelegentlich beeinträchtigend auf die Textverständlichkeit auswirkt. Was Garanča in dieser Aufnahme darüber hinaus ein wenig abgeht, ist das Unbedingte - der Versuch, die Extreme der Welt in der Kunst des Liedes zu bündeln. Das Drängende bei ihr könnte man sich immer noch eine Spur intensiver vorstellen. Am ehesten gelingt ihr diese Vehemenz und glühende Intensität in "O liebliche Wangen" aus op. 47.
    Musik: Johannes Brahms - "O liebliche Wangen" aus op. 47
    Elīna Garanča und ihrem schottischen Klavierpartner Malcolm Martineau ist, kleineren Einwänden zum Trotz, eine insgesamt stimmige und überzeugende, vor allem in Details und Finessen eine poetische, berührende Produktion gelungen. Garanča zeigt mit dieser Einspielung, dass sie - nach zahlreichen Konzerten - nun auch im Aufnahmestudio im Fach Lied angekommen ist. Sie dürfte künftig sicher noch manche Repertoire-Bereicherung bereithalten.
    Musik: Johannes Brahms - "Wie wandelten" aus op. 96
    Lieder
    Elina Garanca (Mezzosopran)
    Malcolm Martineau (Klavier)
    Lieder von Robert Schumann und Johannes Brahms
    Label: Deutsche Grammophon