Dienstag, 19. März 2024

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Kurdische Gemeinde Deutschland
"Solche Täter glauben, sie werden von der Gesellschaft getragen"

Auch wenn der Täter von Hanau vielleicht psychisch krank gewesen sei, habe er gemordet, weil er geglaubt habe, dass viele Menschen in Deutschland so denken wie er, sagte der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschland, Ali Ertan Toprak, im Dlf. Schuld daran sei auch der gesellschaftliche Diskurs.

Ali Ertan Toprak im Gespräch mit Christiane Kaess | 21.02.2020
20.02.2020, Hessen, Hanau: Glassplitter liegen neben einem mit Thermofolie abgedeckten Auto. Durch Schüsse sind im hessischen Hanau mehrere Menschen getötet worden. Foto: Boris Rössler/dpa | Verwendung weltweit
Einer der Tatorte des Anschlags von Hanau (dpa)
Christiane Kaess: Einige der Opfer des Anschlags sind kurdischer Abstammung. Ali Ertan Toprak ist Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland. Herr Toprak, wie haben Sie den gestrigen Tag und die Nacht davor erlebt?
Ali Ertan Toprak: Ich bin immer noch schockiert, sprachlos und sehr betroffen. Gestern haben wir versucht, sofort in Erfahrung zu bringen, ob Mitglieder unserer Gemeinde auch betroffen sind. Kollegen vom Vorstand in Hessen sind sofort nach Hanau gefahren und haben auch die Familien besucht. Ich war in Hamburg im Wahlkampf, hatte Termine, und ich habe versucht, das Ganze vom Telefon aus ein bisschen mit zu organisieren, und natürlich viele Interviews musste ich auch noch geben gestern, aber ich bin sehr betroffen. Junge Menschen haben ihr Leben verloren, sind mitten aus dem Leben gerissen, und ich finde keine Worte dafür.
Extremismusforscher nach Anschlag in Hanau - "Es braucht klare Zeichen der Solidarität"
Extremismusforscher Matthias Quent fordert eine gesellschaftliche Debatte über Rassismus. Das Ziel von Tätern wie dem in Hanau sei es, die Spaltungen innerhalb der Gesellschaft zu vertiefen. Und die Botschaftswirkung einer solchen Tat sei erheblich.
Kaess: Was haben Ihre Kollegen in Hessen gesagt, was ihnen die Menschen, die betroffen sind, sagen?
Toprak: Sie haben ihre Liebsten verloren, sind schockiert, sprachlos, können das nicht verstehen. Hanau ist ihre Heimat, sie waren bis gestern alle glücklich darüber, dass sie dort ein Stück neue Heimat gefunden hatten, und viele dieser Menschen sind ja auch aus ihren Herkunftsländern geflohen, weil sie dort auch keine Freiheiten hatten. Hier hätten sie sich nie vorstellen können, so aus dem Leben gerissen zu werden. Insofern ist der Schock wirklich sehr groß und sehr schmerzvoll für alle Beteiligten.
"Seit vorgestern ist so eine Art Damm gebrochen"
Kaess: Und haben Hanau gilt als Stadt, in der das multikulturelle Leben gut funktioniert. Würden Sie sagen, das Vertrauen ist dadurch umso mehr erschüttert?
Toprak: Ja, natürlich. Viele Menschen haben Angst. Ich meine, es waren zufällig vorgestern Kurden die Opfer gewesen. Es hätte jeden anderen Migranten treffen können, und die Menschen haben Angst, dass irgendwelche Wahnsinnigen jederzeit in Stadtteilen, wo Menschen mit Migrationsbiografie leben, stören können und Menschen töten können. Also die Angst ist sehr groß, und diese Verunsicherung besteht ja schon seit den NSU-Morden und nicht seit erst vorgestern, aber seit vorgestern ist so eine Art Damm gebrochen, und ich merke das auch in meiner Umgebung. Die Angst ist sehr groß unter den Menschen jetzt. Sie haben Angst, wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken, in die Kita schicken, da ist ein Fragezeichen. Kann das auch in meiner Stadt passieren, kann das auch in meinem Stadtviertel passieren?
Anschlag von Hanau - Neue Strategien gegen Rechtsextremismus
Der rechtsextremistische Terror stellt Sicherheitsbehörden vor ein massives Problem. Laut BKA seien 50 Prozent der Täter vorher nicht polizeibekannt. Darauf müssten sich die Sicherheitsbehörden einstellen - und mehr Befugnisse zur Gefahrenabwehr erhalten, fordern Landespolitiker.
Kaess: Fühlen sich die Betroffenen alleingelassen oder haben sie durchaus noch Vertrauen in die deutsche Politik und die deutsche Gesellschaft?
Toprak: Ich meine, die großartige Solidarität und die Anteilnahme gestern in fast allen Großstädten hat ja deutlich gezeigt, dass wir nicht alleine sind und dass wir eigentlich eine Gemeinschaft sind. Das ist wichtig, diese Anteilnahme. Ich habe gestern an der Mahnwache vor dem Hamburger Rathaus teilgenommen. Alle demokratischen Parteien waren da, viele Menschen. Wir stecken jetzt hier im Wahlkampf, am Sonntag sind Wahlen hier. Wir haben alle unsere Wahlkampftermine abgesagt, Veranstaltungen abgesagt und haben uns getroffen, sind zusammengekommen, um ein Zeichen zu setzen. Ich würde aufpassen, wir sollten den Kreisen, die uns spalten wollen, nicht diese Chance, diese Gelegenheit geben. Jetzt muss überall deutlich gezeigt werden, dass wir unsere freiheitlich-demokratische Grundhaltung auch erhalten wollen und dürfen uns nicht spalten lassen. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist gegen Menschenfeindlichkeit, ist gegen Rechtsextremismus. Insofern habe ich weiterhin Vertrauen und auch an die Politik, nur die Politik muss jetzt die rechtsextremistische Gefahr wirklich ganz oben auf die Agenda setzen und einen Kampf wie gegen den RAF-Terror in den 70er-Jahren führen.
"Ich glaube nicht, dass alle AfD-Wähler Rassisten oder Rechtsextremisten sind"
Kaess: Wer sind diejenigen, die spalten?
Toprak: Diejenigen, die spalten, sind Rechtsextremisten in diesem Land, Menschenfeinde, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zerstören wollen. Es gibt ja etliche Politiker leider mittlerweile, auch in verschiedenen Parlamenten in Deutschland, die ständig vom Systemwechsel reden, die unsere Republik schlechtreden, die unsere Demokratie schlechtreden, die unsere Menschlichkeit, Humanismus schlechtreden, und denen muss endlich die rote Karte gezeigt werden, aber trotzdem möchte ich auch davor warnen, in eine Art Hexenjagd gegen vielleicht AfD-Wähler vorzugehen. Ich glaube nicht, dass alle AfD-Wähler Rassisten oder Rechtsextremisten sind. Wir müssen auch versuchen, diese Menschen zurückzugewinnen, auf die Seite der Demokraten zu ziehen. Davor möchte ich auch warnen. Wir können nur diesen Kampf gewinnen gegen rechte Ideologie, wenn wir die Menschen, die in die Falle dieser Rattenfänger fallen, zurückholen können. Da sollten wir auch aufpassen als Gesellschaft.
Anzahl der Fälle von rechtsextremistischer bzw. rassistischer Gewalt in Deutschland seit 1971
Die Daten beruhen auf der Auswertung offizieller Stellen (z.B. Verfassungsschutzberichte, Bundestagsdruckssachen) (Deutschlandradio)
Kaess: Also Sie haben jetzt die AfD-Politiker nicht klar benannt, aber ich nehme an, von denen sprechen Sie, wenn Sie sagen, denen muss man die rote Karte zeigen, aber lassen Sie mich fragen, Herr Toprak, wie kann man denen denn die rote Karte zeigen?
Toprak: Indem wir uns überall gegen diese Sprache, die menschenfeindliche Sprache stellen. Es ist ja ein schleichender Prozess eingetreten in den letzten Jahren. Viele Sachen, die Tabus waren, sind mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen dank der AfD auch. Die AfD muss sich zu Recht vorwerfen lassen, dass sie mit zu dieser Spaltung in dieser Gesellschaft beigetragen hat und auch zur Verrohung der Sprache. Die AfD hat in den letzten Jahren immer wieder, vor allen Dingen seit der Flüchtlingskrise, immer wieder dieses Thema instrumentalisiert und auch immer die Migranten verantwortlich gemacht. Damit muss Schluss sein, und da müssen wir klar sofort widersprechen, nicht nur in den Parlamenten, sondern auch im Alltag. Wie gesagt, das ist in der Mitte angekommen, und das dürfen wir nicht zulassen. Sowas hätte ich nie gedacht, dass sowas in Deutschland wieder möglich ist.
In München haben Menschen bei einer Gedenkveranstaltung mit Kerzen das Wort "Hanau" gebildet
Nach Anschlag in Hanau: Trauer und Wut prägen das Gedenken
In Deutschland gedenken Menschen der Opfer des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau. Extremismusforscher Matthias Quent forderte im Dlf eine gesellschaftliche Debatte über Rassismus. Ziel solcher Täter sei es, die Spaltung in der Gesellschaft zu vertiefen.
Kaess: Aber Herr Toprak, Sie sagen, es kommt aus der Mitte der Gesellschaft, und die AfD hat ja nun mal ihre Wähler. Auch jetzt bei diesem Attentat in Hanau sagt die AfD oder spricht davon, dass es ein offensichtlich geistig verwirrter Täter war, und man könne nicht von linkem oder rechtem Terror sprechen. Tatsächlich ist es so, dass dieser mutmaßliche Täter so etwas wie Wahnvorstellungen hatte. Kann man dieses Argument also gelten lassen oder muss man auch hier schon sagen, da muss widersprochen werden, denn genau verwässert das Ganze?
Toprak: Ja, aber das kenne ich oft bei islamistischen Attentaten. Bei islamistischem Terror wird dann von anderer Seite immer gesagt, es ist eine Einzeltat. Wenn wir nicht dazu kommen, jede Form von Extremismus und Menschenfeindlichkeit zu verurteilen, wenn jeder immer versucht, das zu relativieren mit Einzeltätertheorien, dann kommen wir nicht weiter. Natürlich mag das ein psychisch kranker Täter gewesen sein, aber es muss auch einen Anlass geben, damit diese psychisch Kranken so reagieren, morden, weil sie glauben, sie werden von der Gesellschaft mittlerweile getragen, weil sie glauben, die Mehrheit der Gesellschaft denkt eigentlich so, und ich muss jetzt handeln. Deswegen hat es sehr wohl mit dem gesellschaftlichen Diskurs zu tun. Einfach nur die Sache zu pathologisieren und sagen, Einzeltäter, das war ein Kranker mit Wahnvorstellungen, das relativiert das Ganze und würde dazu führen, dass das jederzeit wieder passieren kann.
"Jede rechtsextremistische Gruppe wirklich festsetzen, festnehmen, verklagen"
Kaess: Was erwarten Sie sich jetzt von der Politik?
Toprak: Von der Politik erwarte ich, dass wir endlich Zeichen setzen. Wie gesagt, sie müssen den Rechtsextremismus ernstnehmen und wirklich auch mit polizeilichen Mitteln bekämpfen, nicht nur mit Programmen wie "Demokratie leben", mit sozialpädagogischen Programmen geht das nicht. Wir müssen auch den rechtsextremistischen Netzwerken, die es ja gibt, die auch … Unsere Sicherheitsbehörden haben ja auch gerade in den letzten ein, zwei Wochen rechtsextremistische Netzwerke festgesetzt, und das muss weitergehen. Wir müssen jede rechtsextremistische Gruppe wirklich festsetzen, festnehmen, verklagen. Die dürfen nicht einen Raum bekommen in Deutschland, wo sie Morde planen können.
Kaess: Aber da hat sich ja schon einiges getan in letzter Zeit bei diesem Kampf gegen Rechtsextremismus. Wir haben vorhin vom innenpolitischen Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, von Mathias Middelberg, gehört, wie schwierig es ist, gerade diesen sogenannten Einzeltätern, wenn sei denn welche sind, auf die Spur zu kommen, gerade wenn sie davor nicht auffällig waren, wie das offenbar, bei allem, was wir bisher wissen, bei dem mutmaßlichen Täter in Hanau gewesen ist. Haben Sie dafür Verständnis?
Toprak: Ja, natürlich. Das kann jederzeit passieren, und es gibt viele psychisch kranke Menschen, aber, wie gesagt, die brauchen auch einen Anlass, um so zu reagieren. Wenn diese Menschen durch unsere öffentliche Diskussion das Gefühl haben, ja, es gibt eine Überfremdung, und unser Volk ist bedroht, unser Land ist bedroht, und jetzt muss ich handeln, das kann dazu führen bei diesen psychisch kranken Menschen, dass sie sich gezwungen sehen, im Namen des Volkes so zu handeln. Deswegen müssen wir auf unsere Sprache achten, bei den gesellschaftlichen Diskursen darauf achten, dass wir bestimmte Personengruppen nicht entmenschlichen und nicht als Gefahr immer in erster Linie sehen. Deswegen haben politische Diskussionen in diesem Land … und die AfD trägt natürlich mit ihrer Sprache dazu bei, dass sich solche krankhaften Menschen sich veranlasst fühlen, Migranten anzugreifen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.