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Kurkow: Über Tschernobyl wird nicht viel geredet

Andrej Kurkow bedauert, dass es in der Ukraine 25 Jahre nach dem Atomunglück von Tschernobyl keine gesellschaftliche Debatte über die Nutzung der Kernkraft gibt. Die 46 Millionen Ukrainer versuchen, "Tschernobyl zu vergessen und nicht viel darüber zu sprechen".

Andrej Kurkow im Gespräch mit Silvia Engels | 26.04.2011
    Silvia Engels: Zu Beginn der Sendung haben wir schon berichtet: heute vor genau 25 Jahren explodierte Reaktor 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl. Ein verunglückter Reaktortest und menschliches Versagen führten zu dem bis dahin schwersten Unfall seit Beginn der zivilen Nutzung der Atomkraft. Die Region um Tschernobyl ist bis heute unbewohnbar. In Kiew erreichen wir den ukrainischen Schriftsteller Andrej Kurkow. Einem Millionenpublikum in Deutschland wurde er bekannt durch seinen Bestseller "Picknick auf dem Eis". Darin beschreibt er die Wirren des politischen Umbruchs Anfang der 90er-Jahre in der Ukraine. Guten Tag, Herr Kurkow.

    Andrej Kurkow: Guten Tag!

    Engels: Wir gehen in diesem Gespräch etwas weiter zurück, nämlich in die 80er-Jahre, als die Ukraine eben noch Teil der Sowjetunion war. Wie erinnern Sie sich an den Unfall von Tschernobyl heute vor 25 Jahren?

    Kurkow: Ja, ich war damals in Odessa, fast 500 Kilometer von Kiew entfernt und vielleicht noch mehr von Tschernobyl entfernt, und ich diente in der Armee als Gefängniswärter. Das heißt, wir hatten diese Information über den Unfall früher bekommen als die normalen Bürger durch die militärischen Beziehungen und die Soldaten aus verschiedenen Regionen waren sofort vorbereitet, nach Tschernobyl geschickt zu werden zur Liquidation der Katastrophe.

    Engels: Sie selbst haben aber dann mit der Liquidation des Reaktors nichts zu tun bekommen?

    Kurkow: Nein! Ich blieb in Odessa und wurde nach Kiew nur fünf Monate später geschickt, und ich erinnere mich, als ich am ersten Tag den Geschmack des Eisens auf der Zunge fühlte. Das war wirklich der Geschmack der Strahlung und ich glaube, jeder in Kiew, der in Kiew geblieben war – und das waren damals nur Männer und Polizisten, die in Kiew geblieben waren -, hat seine Familien und Kinder nach außerhalb geschickt.

    Engels: Wie erinnern Sie sich an die Stimmung dann damals in Kiew, als Sie zurück kamen? War da das Geschehen in Tschernobyl unter denen, die noch da waren, präsent, oder sorgte man sich und hatte immer noch nicht genügend Informationen?

    Kurkow: Ich glaube, die Leute suchten keine Informationen. Die Leute, die in Kiew geblieben waren, waren wirklich sehr trübsinnig und es gab eine ein bisschen surrealistische Stimmung in der Luft. Keiner lächelte, die Leute spazierten immer einsam und schweigsam und die Stadt war wirklich fast leer und sehr schweigsam.

    Engels: Anfangs haben ja die damals sowjetischen Behörden den Vorfall heruntergespielt. Hat denn dennoch die Bevölkerung genug gewusst, um sich vielleicht zu versuchen zu schützen, indem man nicht mehr alle Lebensmittel aß, oder konnte man sich letztendlich überhaupt nicht schützen?

    Kurkow: Ich glaube, das war praktisch unmöglich, sich zu schützen. Die einzige Instruktion, woran ich mich erinnere, war, die Fenster nicht zu öffnen. Die Leute wurden darauf hingewiesen, in den Wohnungen zu bleiben und alle Fenster geschlossen zu lassen.

    Engels: Heute, am 25. Jahrestag, sind ja die Präsidenten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine in Kiew zusammengekommen, um an den Unfall zu erinnern. Wie gehen denn die normalen Menschen in der Ukraine damit um?

    Kurkow: Ich glaube, die Leute, die aus Tschernobyl ausgesiedelt waren, erinnern sich natürlich an alles und für diese Leute ist das einfach eine Trauer und der Gedanke über die verlorene Heimat. Für andere Leute, speziell für junge Leute, bedeutet das schon nicht viel. Und in all diesen Jahren, den letzten 20 Jahren, seitdem die Ukraine unabhängig ist, wurde ganz vielen Opfern der Tschernobyl-Katastrophe das versprochene Geld nicht bezahlt und sie konnten nicht wirklich diese Gesetze benutzen, die für die Opfer vom Parlament akzeptiert wurden. Ich glaube, auch die Politiker zeigten immer, für die Politiker in der Ukraine ist die Tschernobyl-Katastrophe nur dann wichtig, wenn sie mehr Geld für den Sarkophag oder für verschiedene Tschernobyl-Projekte aus dem Ausland bekommen können. Sonst sprechen sie nicht viel über Tschernobyl.

    Engels: Ist denn Tschernobyl heute noch ein großes Thema für die Intellektuellen in Kiew?

    Kurkow: Leider nicht! – Leider nicht. Es gibt wirklich keine Gespräche, keinen Runden Tisch. Nur wenn es eine Tagung gibt, dann gibt es Artikel. Es gibt Sendungen ja, aber sonst ist Tschernobyl weg aus dem Informationsraum der Ukraine.

    Engels: Hat Sie das Thema Tschernobyl in Ihrer schriftstellerischen Darstellung beeinflusst?

    Kurkow: Schwer zu sagen. Ich schrieb nur eine Kurzgeschichte, eine skurrile und ein bisschen à la Hitchcock, ja. Ich dachte vor 20 Jahren, einen Roman zu schreiben, aber dann hatten wir so viele schlechte Romane von verschiedenen Autoren über Tschernobyl und die waren so melancholisch, melodramatisch und falsch, sodass ich dann dachte, besser, ich werde nicht dieses Thema wirklich benutzen.

    Engels: Herr Kurkow, wie sehen die Menschen in der Ukraine die Atomkraft heute, eine Zukunftstechnologie, oder ist die Zahl der Gegner gewachsen?

    Kurkow: Es gibt leider keine Diskussion in der Gesellschaft. Jedermann hat vielleicht seine Idee, aber jeder denkt, er kann nicht die Situation beeinflussen, und so haben wir jetzt 46 Millionen Leute, Individuen, Persönlichkeiten, die wirklich oft versuchen, Tschernobyl zu vergessen und nicht viel darüber zu sprechen.

    Engels: Heute vor 25 Jahren explodierte der Meiler von Tschernobyl. Wir sprachen darüber mit dem ukrainischen Schriftsteller Andrej Kurkow. Vielen Dank für das Gespräch.

    Kurkow: Danke Ihnen.

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