Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Kursiv: Abrechnung mit einer Weltanschauung

Zehn Jahre nach Kriegsende ist Robert Havemann in der DDR Abgeordneter der Volkskammer und als SED-Mitglied eingebunden in die Parteileitung der Humboldt-Universität. Aus diesen Höhen aber stürzt die DDR Havemann umso gnadenloser, je offener der sich als Kritiker des Regimes zu erkennen gibt. Seine Ansichten wider die Parteidoktrin waren in den Jahren zuvor meist im Westen erschienen - so auch eine Reihe von Vorlesungen zum Thema Naturwissenschaft und Weltanschauung Anfang der 1960er Jahre.

Von Peter Pragal | 02.03.2009
    "Dialektik ohne Dogma?" - Der Hörsaal in der Ost-Berliner Humboldt-Universität war bis auf den letzten Platz besetzt. Wie immer, wenn Robert Havemann im Herbst-/ Wintersemester 1963/64 eine Vorlesung hielt. 1250 Studenten hatten sich eingeschrieben, um den Ordinarius für physikalische Chemie zu hören. "Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme" hieß das Thema seiner Vortragsreihe. Für Nichteingeweihte klang das nicht sonderlich spannend. Aber hinter diesem sachlich-trockenen Titel verbarg sich politischer Sprengstoff.

    An diesem 6. Dezember 1963 befasste sich Havemann mit dem Begriff Freiheit. Speziell mit der Freiheit der Menschen im Sozialismus. Die sei nur erstrebenswert, sagte er, wenn sie nicht die Freiheit einzelner, sondern die Freiheit aller sei. Eine Freiheit, die - so wörtlich - "jedem die Möglichkeit lässt, nach seinem Willen und nach seinen Wünschen zu entscheiden." Dann fügte er noch hinzu: "Wir wollen eine Welt schaffen, in der allen Menschen immer mehr Möglichkeiten offen stehen, so dass jeder ganz nach seinem individuellen Streben handeln kann, nicht beschnitten und eingeengt durch Anordnungen, Befehle und Grundsätze."

    Havemanns Thesen erregten Aufsehen. Den Zuhörern war klar, dass der mit dem Nationalpreis der DDR dekorierte Hochschullehrer an den Fundamenten der SED-Ideologie rüttelte. Studenten schrieben Havemanns Ausführungen mit, vervielfältigten sie und verbreiteten sie weiter. Auch die Machthaber der DDR erkannten, dass dieser lange Zeit staatsloyale Wissenschaftler ihnen und ihrer zum Dogma erstarrten Parteiphilosophie des Marxismus-Leninismus den Kampf ansagte. Als ein Kamerateam der DEFA Havemanns letzte Vorlesung am 10. Januar 1964 dokumentierte, griff die Staatssicherheit ein, beschlagnahmte die Filmrollen und verhörte die Filmleute. Nachzulesen in einer Broschüre der Robert-Havemann-Gesellschaft.

    Im Mai 1964 veröffentlichte der Rowohlt Verlag in der Bundesrepublik die insgesamt elf Lektionen von Havemanns Vorlesungsreihe, ergänzt durch die Protokolle von drei Seminaren und eine programmatische Rede vom September 1962 in Leipzig, als rororo-Taschenbuch. Sein Titel: "Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaft und Weltanschauung." In seinem Vorwort schrieb Havemann, er erheische nicht kritiklose Zustimmung, sondern fordere zum Widerspruch und zum Zweifel auf. Nur so könne das Alte überwunden und zugleich dessen Reichtum bewahrt werden.

    Die Lektüre dieser Streitschrift fasziniert auch heute noch. Was anfangs wie ein akademischer Disput um die Bedeutung der Philosophie erscheint, erweist sich von Kapitel zu Kapitel als scharfsinnige Abrechnung mit einer zur Heilslehre aufgeblasenen Weltanschauung, die der "Diktatur des Proletariats" zur Legitimation ihrer Herrschaft diente.

    Zunächst ging es Havemann um den Nachweis, dass das Primat des verfälschten und zur Glaubensordnung verkümmerten dialektischen Materialismus die moderne Naturwissenschaft einengt und behindert. Die von der Lebenswirklichkeit abgehobenen Parteiideologen irrten, wenn sie behaupteten, ihre Philosophie sei die letzte Instanz, vor der alle wissenschaftlichen Fragen zu entscheiden seien, formulierte er.

    Aus der Kritik am Dogmatismus entwickelte Havemann seine Reformvorstellungen von einem schöpferischen Marxismus, frei von Gedankenverboten und administrativen Zwängen. Er plädierte für Demokratie, für Informationsfreiheit und offene Diskussion. Menschen dürfe man nicht behördlich genehmigten Ansichten unterwerfen. Nur so könne man sie von der Notwendigkeit des Kampfes für den Sozialismus überzeugen. Den herrschenden Parteifunktionären schrieb er ins Stammbuch: "Größte Geduld gegenüber Andersdenkenden, Sachlichkeit in der politischen Auseinandersetzung und die Bereitschaft, auch eigene Fehler zu erkennen und einzugestehen, sind Grundvoraussetzungen aller politischen Arbeit im Sozialismus."

    Obwohl Havemann seine Kritik auf der Grundlage des Marxismus entwickelte, erklärten ihn die Machthaber der DDR zum Staatsfeind. In einem Gutachten wertete die Stasi seine Vorlesungen als "raffinierte und verleumderische revisionistische Angriffe auf die marxistische Philosophie."

    Die SED ordnete im März 1964, also noch vor Erscheinen des Buches im Westen, Havemanns fristlose Entlassung als Hochschullehrer an und schloss ihn aus der Partei aus. Begründung: Er habe sich des Verrats an der Sache der Arbeiter- und Bauernmacht schuldig gemacht.

    Im Dezember 1965, nach der Veröffentlichung einiger Interviews und Artikel in der Westpresse, verlor Havemann auch noch seine Arbeitsstelle für Photochemie in der Akademie der Wissenschaften. Aus deren Mitgliederliste wurde er statutenwidrig gestrichen.

    Aber den Mund verbieten ließ sich der verfemte Intellektuelle nicht. Über die westlichen Medien verschaffte er sich weiterhin Gehör und wirkte bis zu seinem Tode 1982 auf die politische Meinungsbildung in der DDR ein. Als führender Kopf der Oppositionsbewegung, auf dessen Analysen, Ideen und Forderungen sich viele Dissidenten stützen konnten.

    Peter Pragal über Robert Havemann: Dialektik ohne Dogma. Naturwissenschaft und Weltanschauung. Erschienen ist diese Sammlung von Vorlesungen Havemanns an der Ost-Berliner Humboldt-Universität 1964 und zwar im Rowohlt Verlag.