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Kursiv: Blick in politische Zeitschriften

Der Zustand der Koalition und die Euro-Krise – zwei große Probleme im politischen Berlin. Norbert Seitz hat die politischen Zeitschriften durchgeblättert und Bestandsaufnahmen sowie Analysen zusammengetragen.

Von Norbert Seitz | 26.09.2011
    Das Vertrauen der Bürger in die Parteienwelt scheint weitgehend erschüttert zu sein. So wird ihr Krisenmanagement nur als Stochern im Nebel wahrgenommen. In dieser Situation ist man für ideologisch unverdächtige Alternativen dankbar, wie der Berliner Sensationserfolg der Piratenpartei beweist. Vom vorübergehenden Höhenflug der Grünen einmal abgesehen, darf sich derzeit keine der etablierten Parteien größere Hoffnungen auf prozentuale Krisengewinne machen. Im Falle der Union und der Kanzlerin scheint festzustehen: "Europas Krise ist Merkels Schicksal". Schreibt Redakteur Albrecht von Lucke in den linksorientierten "Blättern für deutsche und internationale Politik":

    "Was für Kohl die deutsche Einheit war – sein Rettungsanker, könnte für Merkel die Einheit der Europäischen Union werden. Sofern es ihr denn gelingt, den Schalter umzulegen. Denn im Mittelpunkt der Ängste in der Bevölkerung steht die Euro-Krise und der anhaltende Zweifel am Merkelschen Kurs. Wer in dieser Frage die Deutungshoheit erringt, wird bei der Wahl 2013 die Nase vorn haben."

    Zur Hälfte der Legislaturperiode stehe Schwarz-Gelb konzeptionell schwächer da als je eine Koalition zuvor. Lautet das Urteil von Albrecht von Lucke weiter. Dieser Negativbefund gründet sich für ihn vor allem auf den Absturz der Liberalen:

    "Die FDP hat das Kunststück vollbracht, sich in die Bedeutungslosigkeit zu regieren. Der Wechsel im Parteivorsitz ist weitgehend folgenlos geblieben, Zustimmung und inhaltliche Debatte stagnieren weiter. Prozentual hat die 'Wunschkoalition' Westerwelles die FDP förmlich kannibalisiert. 'Bürgerliche Koalitionen' dürften daher auf absehbare Zeit der Vergangenheit angehören."

    Trotz des Dauertiefs der schwarz-gelben Regierung interessierte sich in den letzten Jahren für die Positionen und Inhalte der SPD kaum jemand. Meint die Parlamentskorrespondentin der Süddeutschen Zeitung, Susanne Höll, im herausragenden Beitrag der SPD-nahen "Neuen Gesellschaft". Die Sozialdemokraten hätten es bis heute nicht verstanden, zeitgemäße Formen der Kommunikation mit ganzen Bevölkerungsgruppen zu finden, kritisiert sie. Auch wenn durch Fukushima und die Euro-Krise der öffentliche Bedeutungsverlust unvermeidlich gewesen sei, müsse man ihren Protagonisten dennoch vorwerfen,…

    "… dass sie das kleine verbliebene Maß öffentlicher Aufmerksamkeit immer wieder mit Binnen-Dramen, besser gesagt: Dramoletten, ausschöpfen. Die teilweise absurden Debatten um den Ausschluss von Thilo Sarrazin, die allzu frühe Diskussion über den nächsten Kanzlerkandidaten und der zwischenzeitlich fast abfällige Umgang mit den Grünen haben die Bemühungen der Parteiführung um eine programmatische Profilierung zurückgeworfen."

    Dagegen werden die Zukunftsaussichten der Grünen günstig beurteilt. Der Publizist Gerd Koenen analysiert in der der Ökopartei nahestehenden Zeitschrift "Kommune" jene "historischen Umschlagspunkte", die zum Hoch der linksbürgerlichen Partei geführt hätten:

    "Der Aufstieg der Grünen zu einer Bürgerpartei neuen Stils, bedeutet schon jetzt, weit über die künftige Fortune dieser Partei hinaus, einen Paradigmenwechsel, der ein weites Feld neuer Themen eröffnet. In einer politisch nicht näher zurechenbaren Zwischenzone aus Kirchenvolk und Umweltverbänden, Protestgruppen und Bürgerinitiativen, Zeitschriften und wissenschaftlichen Diskussionsforen sammeln sich kritische Potenziale eines weiter ausgreifenden Gesellschaftsdenkens, das sich nicht in irgendwelchen 'Visionen' verliert, sondern die Entwicklungsbedürfnisse und Möglichkeitsräume unserer global vernetzten Gesellschaft abklopft."

    Bliebe noch eine Generalabrechnung mit der gesamten politischen Klasse. Karl Heinz Bohrer, der scheidende Herausgeber des "Merkur", nimmt sie vor. Ausgehend von der Libyen-Politik und dem Atomausstieg bescheinigt er den Verantwortlichen reihum einen "apolitischen Moralismus", der sich auf "zwei unerquickliche Einsichten" gründe:

    "Erstens: (einen) radikalen Pazifismus. Er charakterisiert noch immer die deutsche Mehrheit, aber auch die Intellektuellen dieses Landes, und dieser Pazifismus ist nichts anderes als das Pendant des ehemaligen Militarismus."

    Und zweitens:

    "(Einen) bewussten Provinzialismus, (… denn:) Eine Fülle von Provinzherzögen hat keinerlei Interesse an einer Karriere in Berlin, geschweige denn an der Kanzlerschaft. Das ist der Vollzug eines Prozesses, der – denkt man an die provinzielle Herkunft von Machtmännern wie Strauss, Kohl und Schröder, eigentlich so nicht zu erwarten, aber immer schon strukturell angelegt war: eben in der mentalen Restitution des Kleinstaats und seine Attraktivität bei einer Mehrheit der Bevölkerung, einschließlich der universitären Intelligenz."