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Kursiv: Klassiker der Politischen Literatur

Marx' zentrales Werk "Das Kapital" verkauft sich derzeit wie geschnitten Brot. Ob er nicht doch irgendwie Recht hatte, mag sich manch einer fragen, während die Zentralen des Kapitals mit dem Geld des kleinen Mannes vor dem Zusammenbruch bewahrt werden müssen. Dabei werden all jene Leser enttäuscht, die sich das Buch kaufen, um die Finanzmarktkrise zu verstehen.

Von Rainer Kühn | 02.02.2009
    "Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten."

    Dieser Stoßseufzer von Jean-Jacques Rousseau bringt nicht nur den Leitgedanken der "Europäischen Aufklärung" auf den Punkt – er charakterisiert auch das gesamte, daran anschließende Werk von Karl Marx: Stets ging es ihm darum, die Bedingungen für eine freie Form des menschlichen Miteinanders theoretisch zu begreifen und daran sein praktisch-politisches Handeln auszurichten.

    Schon in seinen "Frühschriften" entwickelte er die Problemstellung, die ihn bis zum 1867 veröffentlichten ersten Band seines Hauptwerks: "Das Kapital" anleiten sollte: Kein höheres Wesen oder Schicksal bestimmt den Lauf der Welt, nein, die Menschen selbst "machen" ihr Leben, ihre Gesellschaft, ihre Geschichte - aber eben nicht unter selbst gewählten Bedingungen! Ihr Handeln ist nicht frei; vielmehr treten stets Dinge zwischen die Menschen: Mittler, Medien, wie beispielsweise Staat, Bürokratie oder Waren und Geld! Gerade diese letzteren, die Erzeugnisse der wirtschaftlichen Sphäre, werden für Marx zu übermächtigen Momenten. Sie erzwingen die "Verdinglichung" der menschlichen Beziehungen und machen die eigentlichen Subjekte zu Unterworfenen ihrer eigenen Erzeugnisse. Diese Einsicht führte Marx immer weiter auf das Feld der ökonomischen Theorie, angetrieben durch die Erkenntnis:

    "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern."

    1818 in Trier geboren, hatte Marx zunächst in Bonn ein Jurastudium begonnen, wechselte dann nach Berlin, um sich mit der Philosophie von Hegel auseinanderzusetzen. Nach Fertigstellung seiner Dissertation begann er eine journalistische Tätigkeit in Bonn, emigrierte aber vor der preußischen Zensurgesetzgebung zuerst nach Paris, dann nach Brüssel und zuletzt nach London.

    Immer wieder beteiligte er sich an politischen Bündnissen und Aktionen, immer wieder hoffte er auf den Beginn der kommunistischen Gesellschaftsordnung - und immer wieder begab er sich nach Enttäuschung seiner revolutionären Träume zurück ins Studierzimmer, beziehungsweise in den Lesesaal des britischen Museums, um sein auf sechs Bände angelegtes Haupt-Werk voranzutreiben.

    "Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse ... es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen."

    Marx ging es nicht um ewig gültige Aussagen über das Wesen der Menschen, sondern um die seinerzeit sich weltweit durchsetzende kapitalistische Wirtschaftsordnung. Allerdings: Der erste Band des "Kapitals" enthält nur eine Diskussion ökonomischer Kategorien, also eine Beobachtung der Grundbegriffe, mit denen die wirtschaftlichen Theoretiker seiner Zeit unreflektiert arbeiteten, wie etwa Ware, Geld, Wert, Mehrwert, Kapital, Preis und Profit. In einem Brief an Lassalle erläuterte Marx:

    "Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt."

    Daher werden all jene heutigen Leser enttäuscht, die sich das "Kapital" kaufen, um die aktuelle Finanzmarktkrise zu verstehen. Denn eine umfassende Analyse des Weltmarkts, des Kredit- und Bankensystems, mit anderen Worten: eine ausformulierte Ökonomie hatte Marx für die nie geschriebenen Bände 5 und 6 geplant.

    Marx versuchte, das soziale Antriebsmoment kapitalistischer Gesellschaften zu begreifen, und erkannte: Angst ist das Zentralmotiv, das die Menschen beherrscht! Die einen besitzen nur ihre Arbeitskraft als Ware, die sie ständig verkaufen müssen, um zu überleben. Die Proletarier leben somit stets in der Angst, wie Ladenhüter nicht mehr nachgefragt, also erwerbslos zu werden. Aber auch die Besitzer der Produktionsmittel, die Kapitalisten, müssen – wie es mehrfach bei Marx heißt: "bei Strafe ihres Untergangs" - fortwährend das erwirtschaftete Kapital einsetzen, begleitet von der Angst, dass sich die Investition nicht rentiert; weil Wettbewerber billiger oder besser produzieren. Diese Motivanalyse des Freiheitstheoretikers Marx hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt.

    Allerdings versuchte Marx anschließend auch nachzuweisen, dass die kapitalistische Produktionsweise mit gesetzmäßiger Notwendigkeit zu immer stärkeren, immer länger andauernden Krisen und damit zwangsläufig zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen würde. Doch den ökonomischen Beweis dafür blieb Marx schuldig – er ist nicht zu erbringen.

    Entwertet dieses Manko das Werk? Wohl kaum. Denn zum einen bleibt Marx "wissenschaftlich redlich", er fälscht nicht die Ergebnisse seiner Studien für ein ihm erwünschtes Resultat. Und zum anderen hatte sich Marx ja einer Freiheitstheorie verschrieben. Was aber wäre das für eine Freiheit, die letztlich durch ökonomische Zwänge hervorgebracht werden muss und nicht vom freien Willen der Menschen abhängt?

    Gleichwohl: "Das Kapital" bleibt, wie Marx an Friedrich Engels schrieb, als ökonomische Kategorienlehre, ein "Triumph der deutschen Wissenschaft".


    Karl Marx / Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA). Herausgegeben von der internationalen Marx-Engels-Stiftung.
    Zweite Abteilung / Band 6: Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Akademie Verlag, Berlin 1987. 1741 Seiten, 128,- €.


    Diverse andere Ausgaben, etwa Dietz-Verlag, Suhrkamp