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Kursiv Klassiker
Rolf Henrich: Der vormundschaftliche Staat

Von Henry Bernhard | 11.08.2014
    "Der vormundschaftliche Staat bestimmt hier bis in die Lehrinhalte hinein das, das, was gesagt wird und das, was gedacht werden soll."
    Was kurz nach Osten 1989 mit dünner Stimme in den Westen drang, war doch ein Ruf wie Donnerhall. Rolf Henrich, ein bis dahin systemkonformer Rechtsanwalt in Eisenhüttenstadt, SED-Mitglied, Parteisekretär der Anwälte gar, hatte ein Buch geschrieben, das wie Sprengstoff wirkte. "Der vormundschaftliche Staat" erschien im Westen Anfang April '89, aber der SPIEGEL druckte Auszüge bereits eine Woche zuvor ab. Das Ergebnis: Der Autor Rolf Henrich stand schon unter Berufsverbot und wurde aus der SED ausgeschlossen, bevor sein Buch überhaupt veröffentlicht war.
    "Und das bedeutet natürlich zunächst, dass meine wirtschaftliche Existenz so mit einem Federstrich zerschlagen wurde. Aber, ich will auf keinen Fall die DDR verlassen, und ich bin für diese Verhältnisse durchaus mitverantwortlich. Und also bin ich auch dran, in diesen Verhältnissen irgendetwas zu ändern, also dass ich vielleicht mit Hilfe einer theoretischen Analyse die Strukturen hier etwas durchsichtiger mache."
    Henrichs Buch hatte so nichts von den vorsichtig formulierten Petitionen, die aus oppositionellen kirchlichen Kreisen der DDR kamen, er versuchte nicht vorsichtig zu umschreiben, was im Argen lag im Sozialismus, sondern setzte gleich im ersten Satz den großen philosophischen Hebel an.
    "Der vormundschaftliche Staat - mit diesem Titel will ich an das hierzulande stillgelegte Unternehmen Aufklärung erinnern. Denn spätestens seit dem "Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" sind die Hoffnungen aus den Gründerjahren des Staatssozialismus verflogen, dass geänderte Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln und ein aufrechter Gang des Menschen zusammengehen." (S. 10)
    Thesen von der asiatischen Despotie
    Henrich maß den DDR-Sozialismus an den Postulaten der Aufklärung und fand einen mickrigen Kretin vor, der vorgab, ein potenter Riese zu sein. Statt von Grundlagen des Systems sprach er lieber gleich von "Grundlügen". Er nahm Marx beim Wort und beschämte die, die sich Marxisten nannten.
    "Wohin sind wir eigentlich gekommen, wenn uns die Glossatoren des Marxismus-Leninismus inzwischen rüdeste polizeiliche Ordnungsvorstellungen und eine sklavische Arbeitsdisziplin unter Berufung auf Marx als die höchsten Güter der Menschheit preisen dürfen?" (S. 18)
    Henrich holte weit aus, durchpflügte die russische Geschichte, um seine Thesen von der asiatischen Despotie zu belegen. Der Oktober-"Revolution" in Russland, der Gründungsmythos der Staat gewordenen kommunistischen Idee, sprach er das Revolutionäre ab. Und indem er historische Zwangläufigkeiten bestritt, legte er Hand an die Legitimation der SED-Herrschaft. Henrich wollte den DDR-"Sozialismus" im Mark treffen. Nicht, um ihn zu zerstören, sondern um den Menschen wieder Luft zum Atmen zu geben. Dabei ging es ihm nicht um Erleichterungen, sondern um wirkliche Freiheiten. Und so wissenschaftlich er im Buch auch argumentierte, so klar und verständlich konnte er im Interview mit Westmedien auftreten - wie hier im Deutschlandfunk.
    "Diese Menschen haben endgültig diesen vormundschaftlichen Staat satt, und zwar in jeder Hinsicht. Sie wollen endlich auch mal selber bestimmen dürfen, welche Zeitung sie z. B. lesen. Sie wollen an einer Bürgerinitiative mitwirken können, ohne gleich durch den vormundschaftlichen Staat bedroht zu werden."
    In der Bundesrepublik schlug das Buch große Wellen, die über Radio und Fernsehen in die DDR schwappten. Und genau das wollte Henrich: Die Diskussion in der DDR, ja in der SED anstoßen. Denn das intellektuelle Niveau der DDR-Alternativbewegungen hielt er für "blamabel". So blieb bei Henrich auch keiner ungeschoren: Nicht nur die SED-Politbürokratie, sondern auch das unterdrückte Volk bekam seinen Hieb weg:
    "Die wehleidige Selbsteinschätzung, wir allesamt seien "Opfer der politischen Macht", übersieht geflissentlich, dass derjenige, der diesen Schluss für sich gezogen hat, selbst meist durch Unterlassen zur Erhaltung eines Systems der Verselbstständigung beihilft." (S. 11)
    Natürlich kann so eine Bemerkung auf den Autor selbst zurückfallen, gerade wenn man in Betracht zieht, dass er Anwalt in der DDR war, eine Profession, die zumindest eine grundlegende Linientreue voraussetzte. Aber Henrich beugte vor:
    "Ich glaube nicht, dass meine Betrachtungsweise frei von Selbstbetrug ist." (S. 12)
    Messerscharfe Analyse des siechen DDR-Sozialismus
    Der Zweifel aber, so Henrich, wäre schon der erste Schritt raus aus der Bevormundung, in die offene Welt. Der Anwalt Rolf Henrich war immer ein treuer DDR-Bürger gewesen, der gleich nach dem Abitur in die Partei eingetreten war und den Mauerbau zunächst befürwortete. Sein persönliches Damaskuserlebnis war wiederum ein Buch gewesen: "Die Alternative" von Rudolf Bahro, erschienen 1977. Bahro, der den DDR-Sozialismus noch wohlwollend kritisiert hatte, musste dafür ins Gefängnis. Henrich blieb für in Freiheit - Anzeichen für eine zutiefst verunsicherte SED-Führungsspitze. Die DDR-Bürger, die aus den West-Medien von Henrichs Buch erfuhren, reagierten auf ihre Weise.
    "Also, das beginnt bei den Frauen an der Tankstelle, die mich nach dem Erscheinen des Buches umarmt haben, und geht bis hin zu einer bis heute nicht abbrechenden Post."
    Mögen Henrichs Schlussfolgerungen auch etwas unklar gewesen sein, gerade was ökonomische Vorstellungen und die nationale Frage anging, so war seine Analyse des siechen DDR-Sozialismus doch messerscharf. Seine Expertise brachte er dann auch wenige Monate nach Erscheinen des Buches in die Gründung des Neuen Forums ein. Nach der Revolution '89 verschwand Henrich bald wieder von der politischen Bildfläche und arbeitete wieder als Anwalt in Eisenhüttenstadt. Seine Mission war erfüllt.
    Rolf Henrich: "Der vormundschaftliche Staat". Erstveröffentlicht in der Rowohlt aktuell-Reihe, 316 Seiten, derzeit nur antiquarisch erhältlich.