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Kursiv: Kulturguerilla im Untergrund

Urban Explorers - so nennen sich die Gruppen, die in vielen Großstädten der Welt auf halblegale Entdeckungsreisen gehen. In Frankreich werden sie kurz "L'UX - genannt. Lazar Kunstmann hat nun gewissermaßen das Manifest dieser Untergrundbewegung verfasst.

Von Tilla Fuchs | 17.08.2009
    Am 23. August 2004 informiert ein anonymer Anrufer die Polizei über die Existenz eines illegalen unterirdischen Raumes unweit des Palais de Chaillot. Die "Polizeibrigade für unterirdische Steinbrüche" wird mit der Sache betraut. Trotz wilden Hundegebells - welches nach genauerer Untersuchung aus einem Kassettenrekorder schallt - wagen sich die Beamten voran durch die dunklen Gänge, die in ein paar Metern Tiefe unter den Prachtboulevards des 16. Arrondissements verlaufen. Das, was sie am Ende des letzten Gangs entdecken, können sie kaum glauben: Einen volleingerichteten Kinosaal.

    Unser Kino war nicht mit Klappsitzen ausgestattet, sondern mit Steinbänken, die im Halbrund aufgebaut waren. Was dem Ort auch seinen Namen gab: die "Arenen von Chaillot". Neben diesem kleinen Saal hatte die Mexicaine - eine UX-Untergruppe - die Bar eingerichtet, einen Speisesaal und weitere kleine Räume, in denen man nach den Vorführungen zusammensitzen, plaudern und einen trinken konnte. So sollte jedes Stadtviertelkino ausgestattet sein.

    Als das Sondereinsatzkommando wenig später wiederkommt, finden sie den Ort leer vor. Das ganze Material, Projektoren, Leinwand, Mobiliar, alles ist verschwunden. Mit Ausnahme eines Schilds, auf welchem zu lesen ist: "Ihr braucht gar nicht erst zu suchen". Das Kinofestival, das mehrere Sommer lang in den Arenen von Chaillot stattfand, wird seitdem an anderen Orten ausgetragen. An geheimen, häufig wechselnden Orten. Um zu ihnen zu gelangen, schleppen die Veranstalter ihr Publikum durch Abwasserkanäle und Metroschächte. Sie haben Generalschlüssel zu Gebäuden, die eigentlich scharf bewacht werden, und kennen den Pariser Untergrund genau. Auch wenn Lazar Kunstmann als Erzähler in der dritten Person scheinbar Distanz zu den Ereignissen hat, nimmt er den Leser mit ins Zentrum des Geschehens. Er ist nicht nur nah dran, er ist Teil von UX. So taucht er auf einigen der Schwarz-Weiß-Fotos auf, die das Buch ein wenig wie eine Dokumentation des vergessenen, vergangenen Paris' erscheinen lassen. Stellenweise liest sich Kunstmanns Buch wie ein aufschneiderischer Abenteuerroman. Dabei geht es UX gar nicht um Heldentum, sondern um Kultur - im weitesten Sinne.

    "Wir hängen nicht an der Geheimnistuerei. Die 'Mexicaine' wäre zum Beispiel begeistert, wenn ein Kino ihr Programm offiziell übernehmen würde. Das Wichtigste für uns ist: neue kulturelle Möglichkeiten aufzutun, etwas anzubieten, was auf der 'Oberfläche', also in der normalen Welt nicht machbar wäre. Wir bestehen aber auch auf einer gewissen Regelmäßigkeit. Die Kinofestivals im Sommer gehören dazu, die Restaurierungsprojekte gehören dazu."
    Die Kulturguerilla UX hat nicht zum Ziel, die französische Kulturpolitik zu kritisieren. Oder die Vernachlässigung gewisser Monumente und Kunstschätze anzuprangern. Sondern, ihre Ideen umzusetzen und manchmal den ein oder anderen "délaissé urbain", ein vernachlässigtes, vergessenes Monument zu retten. So restaurierte die UX-Gruppe "UnterGunther" in monatelanger, minutiöser Arbeit eine Uhr im Pariser Pantheon. Eine spektakuläre Aktion, die viel Aufsehen erregte. Denn diesmal machte UX seine Aktivitäten publik. Die meisten Künstler oder Künstlergruppen wollen weder kopiert noch imitiert werden. Anders UX, denn das Publikum wächst ihnen trotz aller Geheimnistuerei langsam über den Kopf. Vor allem die Kinogruppe "Mexicaine" kann sich vor lauter Zuschauern kaum mehr retten:

    "Ihr Problem ist ihr Erfolg. Ihre Sorge ist es nicht, Zuschauer anzuziehen. Es gibt sowieso mittlerweile ein Stammpublikum, das den Wunsch hat, an allen Aktivitäten der Mexicaine teilzunehmen. Das ist sehr gut, aber eigentlich war das nicht das Ziel. Wenn also morgen ein Kino ihr Programm übernimmt, würde sie das bestimmt erleichtern."
    Warum also ein Buch schreiben, wenn man am liebsten unentdeckt bliebe? Ganz einfach um den Gerüchten zuvorzukommen, die so zahlreich über die UX kursieren. Denn wer im Untergrund operiert, gerät nur allzu schnell in den Verdacht des Illegalen. Seit einigen Monaten kann sich Lazar Kunstmann kaum mehr retten vor lauter Medienanfragen. Sein Buch findet sich in vielen Pariser Buchhandlungen. Und: sogar im Geschenkeshop des Chaillot Palasts. Also in jenem Gebäude, in dessen Katakomben die UX ihr Kinofestival eingerichtet hatten.

    Lazar Kunstmann: "La Culture en Clandestins. L´UX". Das Buch ist in der Edition Hazan erschienen, hat 199 Seiten und kostet 17 Euro 10. Unsere Rezensentin war Tilla Fuchs.