Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Kurzgeschichte zum Literatursommer
Vier Tage die Woche, gut bezahlt

Die Geschichte hinter der Meldung: Der Schriftsteller Matthias Jügler verwandelt eine kurze Nachricht in eine fiktive Erinnerung an einen Uni-Job, der gutes Geld, aber wenig Abwechslung brachte.

Von Matthias Jügler | 05.08.2021
Lesebrille liegt auf Tisch mit Kreuzworträtsel
Kreuzworträtsel - wohl spannender als die Aushilfsarbeit in einem Archiv 1973 (Imago/robertkalb photographien)
Zeitungsspalten mit "Vermischtem" aus aller Welt präsentieren oft Kurioses, Tragisches, Faszinierendes - ganze Geschichten, erzählt in wenigen Zeilen. Im Literatursommer des Deutschlandradio haben wir vier Schriftstellerinnen und Schriftsteller gebeten, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, ausgehend von einer kleinen Nachrichtenmeldung.
Die Meldung
Sensationsfund in der Catholic University in Washington D.C.: Dort wurde bei Renovierungsarbeiten ein blau-kariertes Schürzenkleid wieder gefunden, das Judy Garland als Dorothy im Film "Der Zauberer von Oz" im Jahr 1939 einst getragen hatte. Das Kleid galt seit Jahrzehnten als verschollen, nun entdeckte man es zufällig in einer Plastiktüte auf einem Schrank in einem Büro der Washingtoner Universität. Das Kleid lag seit den 1970er Jahren auf einem Schrank, samt Namensetikett und sogar Schweißflecken, die es nun eindeutig identifizierbar machten. Es wird jetzt besser gelagert und soll in einem klimatisierten Archiv verwahrt werden. Vor kurzem wurde auf der Gästetoilette der Universität noch ein anderer Fund gemacht: Dort entdeckte man eine Rembrandtzeichnung.
Was ich nicht weiß: ob das Kleid wirklich Judy Garland gehörte. Was ich weiß: wie es auf dem Schrank eines Büros der Katholischen Uni in Washington gelandet ist. Und genau davon möchte ich erzählen.
Im Jahr 1973, wenige Wochen bevor Reverent Hartke dieses Kleid geschenkt bekam, war ich achtzehn Jahre alt, und auf der Suche nach einem Job. Ein Freund hatte mir damals erzählt, dass die Katholische Uni eine Aushilfe für ihr Archiv suchte. Vier Tage die Woche, gut bezahlt. Ich bekam die Stelle.
Porträt von Matthias Jügler
Der Schriftsteller Matthias Jügler wurde 1984 in Halle an der Saale geboren und lebt in Leipzig. Sein jüngster Roman "Die Verlassenen" über die Machenschaften der Stasi erschien 2021. (Melina Mörsdorf Photography)
Ich hatte damit gerechnet, dass ich die meiste Zeit über nichts zu tun hätte, dass ich Kreuzworträtsel lösen könnte, was ich gerne machte in jener Zeit. Ich war förmlich süchtig danach. Aber dem war nicht so. Man hatte mir aufgetragen, das halbe Archiv neu zu strukturieren. Das war eine verdammt stumpfsinnige Arbeit, und ich erinnere mich, dass ich irgendwann nichts weiter machte als ein Kreuzworträtsel nach dem anderen zu lösen, jedenfalls wenn ich unbeobachtet war, was oft vorkam.
Eines Tages rief man mich zu Reverent Hartke in die zweite Etage. Ich fragte mich, was jemand wie Hartke von mir wollte. Er gab mir eine Tüte, in der sich ein zusammengefaltetes Stück blau-weiß karierter Stoff befand. Hartke hatte silbernes Haar und roch nach einer betörenden Mischung aus Mandarine und Zimt.
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"Bringen Sie das ins Archiv, ja?", sagte er und gab mir einen Zettel: "Abteilung IV_pre." Er sah mich eindringlich an und sagte: "Sie wissen, wo das ist?" Ich nickte und ging. Wo, verdammt nochmal, sollte sich diese Abteilung befinden? Bis zum Feierabend löste ich Kreuzworträtsel. Als ich aufstand, um zu gehen, legte ich die Tüte in die Schublade meines Schreibtischs, und schon am nächsten Tag dachte ich nicht mehr daran.
Im Winter war es dann soweit. Ich erhielt die Kündigung. Als ich schließlich meinen Platz räumen musste, fand ich die Tüte mit dem Kleid wieder. Ich warf sie in den Müll. Dann kam das schlechte Gewissen. Also holte ich sie wieder heraus und legte sie in einen der Schuhkartons, in denen das Archiv Fotos der Jahrgangsbesten zwischenlagerte.

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Ich ging durch die Flure der Uni und klopfte schließlich an Hartkes Büro, den Karton in meiner Hand. Die Sache war mir über die Maßen peinlich. Ich klopfte noch einmal. Aber er rief mich nicht hinein. Also öffnete ich die Tür und da sah ich ihn: Er trug Kopfhörer, sah aus dem Fenster und er schien gedankenverloren mit sich selbst zu tanzen. Neben mir stand ein Schrank. Ich kann bis heute nicht sagen, warum – aber die Möglichkeit, den Karton einfach auf den Schrank zu legen und wieder zu verschwinden, also alles zurückzubringen, ohne aber gleichzeitig preisgeben zu müssen, dass ich es vermasselt hatte, schien mir von allen die Beste.
Natürlich hätte ich das nicht gemacht, wenn ich gewusst hätte, wie wertvoll dieses Kleid ist. Aber mal ganz im Ernst: Woher hätte ich das verdammt nochmal wissen sollen, hm?