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Kurzgeschichten
Verstrickungen des realen und digitalen Lebens

In dem Band "Vier neue Nachrichten" geht es um die virtuelle Welt und wie sie das Leben beeinflusst. In seinen vier Erzählungen macht es der junge amerikanische Autor Joshua Cohen den Lesern nicht einfach - er ist ein Meister darin, Erwartungen zu enttäuschen.

Von Brigitte Neumann | 27.05.2015
    Eine Person tippt auf der Tastatur eines Laptop Computers.
    Joshua Cohen wollte mit den Erzählungen gleichnishafte Geschichten erzählen. (imago / Jochen Tack)
    Romane, die vor den negativen Potenzen der digitalen Wende warnen, gibt es mittlerweile einige. Und die besten kommen aus den USA: Richard Powers "Das größere Glück", Gary Shteyngarts "Super Sad True Love Story" oder Dave Eggers "The Circle". Joshua Cohen, um dessen Erzählungen "Vier neue Nachrichten" es hier gehen soll, sieht sich allerdings nicht in der Rolle des Warners.
    "Bei allem Respekt vor den deutschen Journalisten - offenbar wünschen sie sich, dass ich das Internet kritisiere - nein, tu ich nicht. Ich wollte eine Reihe gleichnishafter Geschichten schreiben, wie sie etwa aus dem Mittelalter bekannt sind. Die Idee dahinter: Literatur kann uns schlauer machen, sie verfolgt didaktische Ziele. Meine Geschichten wollen unterweisen. Aber sie haben auch eine andere Seite, und das ist die der Parodie. Ich will gleichzeitig die pädagogisch-pedantische Zielsetzung meiner Geschichten parodieren."
    Sie merken vielleicht schon, der Autor macht es uns nicht einfach, denn er liebt das Widersprüchliche. Deshalb hängen ihm die Kritiker in den USA und Europa Titel wie postmoderner Autor oder experimenteller Erzähler an. Aber der Ex-Musiker ist ein Meister, wenn es darum geht, Erwartungen zu enttäuschen - auch die des Lesers.
    Cohen geht beim Schreiben seiner Geschichten so vor: Erst baut er ein Setting auf - also Personal, Ort, Zeit, Thema - und dann schlägt er das ganze Konstrukt unversehens entzwei, weiter geht's dafür an anderem Ort mit einem irgendwie so halbwegs zugehörigen Setting. All dies passiert in ein- und derselben Geschichte. Das heißt, der Leser muss einiges leisten, um den immer wieder durchtrennten Handlungs- und Sinn-Faden zu finden, die losen Enden aneinander zu knüpfen und sowohl Boden als auch Verlauf auszumachen. Aber ist das nicht alles folgerichtig? Cohens Thema ist schließlich die Fragmentierung unseres Lebens durch das Internet. Und die findet halt ihre Entsprechung in einem fragmentarischen Stil.
    "Zuerst basierten die Teile eines Romans auf der Entwicklung seiner Charaktere. Dann, seit Ende des 20. Jahrhunderts stehen Ideen im Mittelpunkt. Die Teile des Buches beziehen sich aufeinander, nicht wegen der Beziehung der Charaktere zueinander, sondern wegen der Beziehungen, die die Ideen des Autors zueinander haben."
    Damit habe die amerikanische Literatur schon seit den 60er- und 70er-Jahren experimentiert und somit eine Matrix geschaffen, nach der sich das Internet entwickeln konnte, meint Cohen. Um es noch einmal deutlicher zu sagen: Die Literatur habe da der technologischen Entwicklung vorgegriffen. Und Cohen weiter:
    "Zwar verbindet diese Technologie die Menschen ebenfalls, aber dabei ist die Frage der Beziehungen untereinander nicht wichtig, sondern nur die der gemeinsamen Interessen."
    Und das mag auch der Grund sein, wieso bei Cohens Texten eine Atmosphäre der Unverbundenheit und Beziehungslosigkeit vorherrscht.
    "Emission", "McDonalds", "Der Uni-Bezirk" und "Gesendet" - die Erzählungen des Bands "Vier neue Nachrichten" lesen sich entsprechend: Es ist wie Gleiten auf brüchigem Eis.
    Cohen konstruiert und dekonstruiert
    Aber worum geht's eigentlich? In Geschichte eins wird ein Versager, der sich als kleiner Dealer für Princeton-Studenten über Wasser hält, dabei fotografiert, wie er einer zugedröhnten Kundin auf das Gesicht masturbiert. Bild, Blogkommentare, sein voller Name, Adresse, Telefonnummer erscheinen im Netz, und der Mann ist erledigt. Seine Anwältin macht ihm keine großen Hoffnungen, dass sich daran etwas ändern könnte. "Das Netz ist wie verschwitzte Schuhe. Was da mal drin ist, lebt ewig.", heißt es bei Joshua Cohen.
    "Wir treten in eine Welt ein, in der die wichtigsten Texte nicht gezielt veröffentlicht werden, sondern geleakt - sei es durch Kriminelle oder Piraten. Zuvor hatte der Staat das Monopol zu zensieren, was veröffentlicht wird, nun leben wir in einer Gesellschaft, in der die Leute sich gegenseitig zensieren. Man muss heute immer Angst haben, dass ungewollt einiges aus dem eigenen Leben in die Welt durchsickert."
    Die zweite Story mit dem Titel "McDonalds" erzählt Cohen aus der Perspektive eines prekär beschäftigten Korrektors von Beipackzetteln, der an einer Kurzgeschichte laboriert und an der Frage, ob er den urheberrechtlich geschützten Namen des weltgrößten Frikadellenbrötchenverkäufers darin nennen darf oder nicht. Er erörtert diese und andere Fragen ausführlich mit seinem Vater, der sich allerdings nach ein paar Seiten in Luft auflöst: War nur eine Erfindung, schreibt Cohen lapidar. Der Korrektor ruft als nächstes seine Mutter an und es passiert das gleiche. Cohen konstruiert und dekonstruiert, aber mit welchem Ziel? Das wird nicht klar und so wirkt diese Strategie verwirrend. Aber der Autor sagt ja auch:
    "Ich schreibe nicht, um gelesen zu werden. Ich stelle mir eher vor, dass ich mit mir selbst spreche. Denn, was ich kapiert habe ist: Je mehr Leser du hast, desto schlechter bist du als Schriftsteller."
    Sinn und Form in eins zu bringen
    Cohens letzte Geschichte aus dem Band "Vier neue Nachrichten" heißt "Gesendet". Es geht da um amerikanische Pornoproduzenten, die das Leben naiver Dorfschönheiten in Osteuropa zerstören. Denn die Pornostreifen kursieren für alle Zeiten im Netz. Ein junger amerikanischer Journalist namens David betritt die Szene. Er ergreift zwar für die Frauen Partei, aber andererseits sucht er so oft die - wie Cohen sie nennt - Entsaftungsseiten im Netz auf, dass wir sein ritterlich-journalistisches Ethos in Zweifel ziehen müssen. Das Ganze erzählt Cohen erst als Märchen aus der Perspektive eines Betts; dann als Protokoll einer Recherche und schließlich als drogeninduzierte Halluzination. Der osteuropäische Sexmarkt wird zuerst zur Abenteuer- dann zur Gefahren-Kulisse, vor der David sein eigentliches Ziel verfolgt: sich schlicht endlich von seinen Eltern zu lösen.
    Dies wächst sich zu einem lebensgefährlichen Unternehmen aus, das ihn noch dazu in völlige Verwirrung stürzt. Und weil der 34-jährige Joshua Cohen dazu neigt, Sinn und Form ganz konkretistisch in eins zu bringen, schreibt er derart, dass auch wir die Orientierung verlieren. Aber kurz bevor wir kapitulieren, kommt dieser erstaunliche Satz:
    "Wir legen hier eine Pause ein, damit Sie sich ihre PIN-Nummern ins Gedächtnis rufen können."
    Trotzdem: In einer Stimmung zwischen ratlos und inspiriert schlägt man Joshua Cohens Buch schließlich zu. Auch voller Respekt für die Arbeit Ulrich Blumenbachs, der eine Menge neuer Worte erfinden musste, zum Beispiel diese Ersatznamen für McDonalds: Über-Imbiss, Fri-Ka-Kette, Gefress Oblige.
    Einfluss der digitalen Sphäre aufs Leben
    Joshua Cohen beschreibt, wie die digitale Sphäre Einfluss auf unser Leben gewinnt. Und weil wir uns diese neue, mithin zweigleisige Existenz noch nicht so richtig erklären können, trifft der Band "Vier neue Nachrichten" allein schon vom Thema her auf unser Interesse. Und dann: Mit welch überschäumender Fantasie Cohen der Entwicklung begegnet, hat Klasse. Dass er aber immer mal wieder die Realität im Erzählten dementiert, untergräbt das Vertrauen des Lesers in eine stillschweigende Übereinkunft. Nämlich die, dass es bei Literatur um eine - wie auch immer - subjektive Wahrheit des Autors gehe. Vor 100 Jahren hat schon Virginia Woolf die Fallstricke literarischer Formexperimente kommentiert, und zwar folgendermaßen:
    "Wir müssen bedenken, dass bei so viel Kraftverbrauch für die Suche nach einem Weg, die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit selber uns notgedrungen in einer ziemlich erschöpften und chaotischen Verfassung erreichen wird."
    Joshua Cohen: "Vier neue Nachrichten"
    Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach, Schöffling Verlag, 270 Seiten, 19,95 Euro.