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Kutte des Schweigens

Das Canisius-Kolleg in Berlin gilt als Elitezentrum katholischer Bildung. Umso größer war der Schock, als nun ans Licht kam, dass dort Schüler jahrelang sexuell missbraucht worden sind. Mit Rechtsanwältin Ursula Raue hat der Jesuitenorden, der das Kolleg betreibt, eine eigene Beauftragte für Fälle von sexuellem Missbrauch. Sie spricht mit den Tätern und recherchiert die Hintergründe.

Ursula Raue im Gespräch mit Friedbert Meurer | 01.02.2010
    Friedbert Meurer: Der Jesuitenorden, der das Kolleg betreibt, hat seit einiger Zeit eine eigene Beauftragte für Fälle von sexuellem Missbrauch. Es ist die Berliner Rechtsanwältin Ursula Raue. Guten Morgen, Frau Raue.

    Ursula Raue: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Sie reden mit Opfern, Frau Raue, Sie reden mit Tätern. Wie viele Täter, wie viele Opfer gibt es Ihrer Kenntnis nach bisher?

    Raue: Ich habe das gestern noch mal durchgezählt. Von 19 Opfern, 20 genau, wissen wir inzwischen und ich weiß von 2 Tätern, mit denen ich auch Kontakt habe.

    Meurer: Sie haben mit denen gesprochen?

    Raue: Ja.

    Meurer: Worüber reden Sie da?

    Raue: Erst mal um den Sachverhalt: Was ist geschehen? Das hat sich aber herausgestellt, dass sich das weitgehend mit dem deckt, was die Opfer sagen. Und dann geht es mir darum, denen klar zu machen, was eigentlich die Opfer dabei empfunden haben.

    Meurer: Es ist aber so, dass einer der beiden die Taten nicht zugibt?

    Raue: Nein, so ist es.

    Meurer: Wenn Sie mit den Opfern reden, was hören Sie dort? Welchen Eindruck gewinnen Sie aus diesen Gesprächen?

    Raue: Es ist immer wieder diese Scham, dieses verletzt worden sein, dieses nicht darüber reden können, nicht reden dürfen. Das ist schon etwas, was Leute dann doch über viele Jahre verfolgt.

    Meurer: Haben Sie von den ehemaligen Schülern gehört: wir haben doch damals gesagt und niemand hat auf uns gehört?

    Raue: Sie haben ja vorhin den Brief zitiert, der Anfang der 80er-Jahre geschrieben wurde. Das ist so. Ich habe aber auch von Opfern gehört, dass die gesagt haben, uns hätte bestimmt keiner geglaubt.

    Meurer: Es soll 1981 acht Schüler gegeben haben, die einen Brief an die Schulleitung geschrieben haben, an das bischöfliche Ordinariat; es hat keine Antwort gegeben. Wie erklären Sie sich das?

    Raue: Das kann ich mir nicht erklären. Das gehört zu den Dingen, die ich in den nächsten Tagen, in den nächsten Wochen recherchieren werde und herausfinden werde. Ich weiß das nicht, warum es keine Antwort darauf gab.

    Meurer: Wie werden Sie, Frau Raue, jetzt in der nächsten Zeit arbeiten? Was tun Sie?

    Raue: Ich schaue mir die Akten an und ich werde dann vor allen Dingen, wenn das, was in den Akten ist, ganz klar ist, darüber sprechen, welche Strukturen das befördert haben, dass so lange das alles im Dunkeln blieb.

    Meurer: Welche Strukturen könnten das gewesen sein?

    Raue: Pater Mertes hat das ja auch schon angesprochen. Das können durchaus Strukturen in der katholischen Sexualmoral sein, dass darüber nicht gesprochen wird. Das wird mir auch von Opfern immer wieder gesagt, dass das so ein schwieriges Thema ist.

    Meurer: Also wir gehen davon aus, die Leitung wurde damals informiert, aber es gab eine Schamgrenze, dass man das einfach ignoriert hat?

    Raue: Ja. Ob man das jetzt als Scham bezeichnen muss, oder ob das eine Betroffenheit war, wo man gesagt hat, wenn wir nicht hingucken, ist nichts gewesen, das kann ich jetzt nicht beurteilen. Das werden die Recherchen ergeben und das werden die Gespräche ergeben, die ich noch führen muss.

    Meurer: Der Schulleiter Klaus Mertes ist diese Woche beziehungsweise letzte Woche in die Offensive gegangen, bekam dafür Lob. Jetzt weiß man, er weiß es schon seit drei Jahren, sagte eben, damit muss ich jetzt leben. Wie finden Sie das, dass er drei Jahre gewartet hat?

    Raue: Na ja, er hat es ja erklärt. Er hat den Opfern Diskretion zugesagt und das war für ihn wichtig. Ich finde Diskretion, wenn man sie zusagt, auch ein wichtiges Gut.

    Meurer: Wie groß ist denn die Angst der Opfer, dass die Diskretion verletzt wird und alles jetzt in der Öffentlichkeit breitgetreten wird, mit ihren Namen?

    Raue: Wir nennen keine Namen. Von uns aus, oder ich werde keine Namen nennen, solange die Opfer das nicht selber tun, selber sagen, ich möchte an die Öffentlichkeit gehen.

    Meurer: Haben die Opfer Angst, dass von anderer Stelle ihr Name genannt wird?

    Raue: Einige werden das haben. Die Leute, die wir jetzt als Opfer bezeichnen, sind ja alles gestandene erwachsene Menschen. Da geht jeder anders mit um.

    Meurer: Frau Raue, Sie beschäftigen sich mit dem Thema sexueller Missbrauch bei Kindern schon seit langem. Ist es eigentlich so, dass katholische Ordensleute, Priester mehr gefährdet sind als andere Erzieher, hier Verfehlungen zu begehen?

    Raue: Das kann ich so allgemein nicht sagen. Das ist eine Frage, der jetzt nachgegangen wird, ob die Strukturen das besonders befördern. Es ist einfach so, dass möglicherweise Männerorganisationen auch einen Raum bieten für spezielle sexuelle Ausrichtungen, aber das ist wirklich zu früh, für mich ist es zu früh, darüber jetzt etwas Abschließendes zu sagen.

    Meurer: Aber Sie kennen ja auch die Diskussion, Frau Raue, dass der Zölibat sozusagen die sexuellen Wünsche umbiegt, und die Tatsache, dass der Zölibat existiert, solche Fälle befördert. Glauben Sie das?

    Raue: Ob ich das glaube? Ja, ich glaube das durchaus, aber für die Untersuchung kommt es nicht unbedingt darauf an, was ich glaube, sondern was ich herausfinden werde.

    Meurer: Wieso ist das so ein großer Unterschied? Ihr Glaube beruht ja darauf, was Sie in den ganzen Jahren recherchiert und erfahren haben.

    Raue: Ja, ja, aber das heißt noch nicht wirklich, dass das ... Das haben wir jetzt einfach aus Beobachtungen gesehen und das ist etwas, was naheliegend ist, aber ob das in diesem Fall genauso ist, das müssen wir an den einzelnen Fällen wirklich klären.

    Meurer: Das war Ursula Raue. Sie ist Beauftragte des Jesuitenordens für Fälle von sexuellem Missbrauch. Frau Raue, ich danke Ihnen herzlich und auf Wiederhören.

    Raue: Danke Ihnen, Herr Meurer. Auf Wiederhören.