Freitag, 29. März 2024

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La Clemenza di Tito
Konfliktarm? Nicht doch!

Eine theatralisch fesselnde Aufnahme ist dem Dirigenten Yannick Nézet-Seguin mit "La Clemenza di Tito" von Mozart gelungen. Stürmisch und doch filigran spielt das Chamber Orchestra of Europe, die Sängerinnen und Sänger überzeugen mit Ausdrucksstärke. Nur der Tenor Rolando Villazon war hörbar außer Form.

Am Mikrofon: Jürgen Kesting | 22.07.2018
    Der Tenor Rolando Villazon und der Dirigent Yannick Nézet-Séguin
    Der Tenor Rolando Villazon und der Dirigent Yannick Nézet-Séguin (Festspielhaus Baden-Baden / Harald Hoffmann)
    Sechs Jahre ist es her, dass die Deutsche Grammophon Gesellschaft angekündigte, die sieben großen Opern von Mozart mit dem damals frisch engagierten kanadischen Dirigenten Yannick Nézet-Seguin aufzunehmen: als Mitschnitte aus dem Festspielhaus in Baden-Baden. Damals eine kühne Wahl, die sich als klug erwiesen hat. Denn der Kanadier ist inzwischen zum Nachfolger von James Levine an der Metropolitan Opera gewählt worden. Dass für alle Opern auch ein einziger Tenor verpflichtet wurde, war sehr viel kühner, weil die Stimme von Rolando Villazón erheblichen Form-Schwankungen unterworfen war. Er war ganz außer Form, als er vor einem Jahr, zum Zeitpunkt der Aufnahme, in der Auftrittsarie des Tito von den Aufgaben und Pflichten eines humanen Herrschers kündete: "Del più sublime soglio".
    Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, "Del più sublime soglio" (Rolando Villazón als Tito)
    Wir haben einen angestrengt klingenden Rolando Villazón gehört, der mit einer matten, heiser-belegten Stimme das Credo des Tito sang: Dass der höchste Thron ihm nur dann eine Freude schenke, wenn er den Armen helfen und den Freunden nützen könne. Mag die Phrasierung an die einstigen Qualitäten des wunderbaren Tenors erinnern, so hat die Stimme ihre samtige Schönheit verloren, besonders ihre tenorale Qualität. Wie schwach auch die Titelpartie besetzt ist, so ist die Aufnahme dennoch eine Freude – zum einen wegen des exzellenten Chamber Orchestra of Europe, zum anderen wegen des vortrefflichen Ensembles.
    Tito eine "Puppe der Großmut"
    Vorab ein Wort zur Rezeptionsgeschichte. Die Oper, entstanden unmittelbar nach der "Zauberflöte", ist als Politikum verworfen worden. Es traf auf Unverständnis, dass Mozart zwei Jahre nach der Großen Revolution noch einmal den feudalen Machtkosmos beschwor; dass ein Herrscher gefeiert wird, der Gnade walten lässt gegenüber Vitellia, die ein Mordkomplott gegen ihn schmiedet, ebenso wie gegenüber seinem Freund Sesto, der sich aus Liebe zu Vitellia zum Werkzeug der Untat machen lässt. Alfred Einstein hat diesen milde-mürben Monarchen in seinem Mozart-Buch von 1947 als "Puppe der Großmut" bezeichnet. Drei Jahrzehnte später haben Wolfgang Hildesheimer und Ivan Nagel die Polemik zugespitzt. "La Clemenza di Tito" sei arm an Konflikten und feiere auf verlogene Weise den Absolutismus.
    Doch schon mit dem ersten Duett zwischen Vitellia und Sesto lässt sich dieses Urteil widerlegen. Vitellia, die es nicht verwinden kann, dass Tito nicht sie zur Frau gewählt hat, versucht, den in sie verliebten Sesto zum Mord an Tito zu bewegen, in dem Sesto "la delizia del mondo, al Padre a Roma, l’amico a noi" sieht. Also: Das Vergnügen der Welt, den Vater von Rom und Freund für uns alle. Sein Zaudern bringt den Zorn der Vitellia zum Glühen. Auf die Klage Sestos über sein Dilemma – entweder den Kaiser, seinen besten Freund zu morden oder die Heirat des Kaisers mit der Frau, die er selber liebt, einzufädeln, reagiert Vitellia mit einer emotionalen Erpressung; und es gelingt ihr, Sesto zu ihrem willenlosen Werkzeug zu machen – welch eine seelische Verschlungenheit. Sesto begibt sich auf den Weg, das Kapitol in Brand zu stecken und den Kaiser zu töten. In der amerikanischen Mezzosopranistin Joyce diDonato hat Sesto eine überragende Interpretin gefunden.
    Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, "Parto, parto" (Joyce diDonato als Sesto)
    Joyce diDonato bringt für die Arie "Parto, parto, meco ritorna in pace" alles mit: den flehenden Klang wie den entschiedenen Ton und darüber hinaus jene Virtuosität, die in einem eigentümlichen Mehr können als es nur können liegt: ob in der Ausführungen von Koloraturen, Trillern oder, wie eben zu hören, der dynamischen Abstufung.
    Das grässlichste aller weiblichen Wesen
    Der Vorwurf der "Konfliktarmut", der sich stereotyp gegen das Werk richtet, wird entkräftet durch Figur der Vitellia und ihren Rachefuror. Sie gehört, mit einem Begriff von Dieter Borchmeyer, zu Mozarts "rasenden Weibern". Der Komponist und Kritiker Donald Francis Tovey sah in ihr das grässlichste weibliche Wesen, das jemals in einem Libretto sein Unwesen trieb – wir können davon ausgehen, dass Tovey auch andere Weibsteufel wie Ortrud oder Lady Macbeth bekannt waren. Welch ein Wüten, wenn Vitellia sich gleich nach Sestos "Parto"-Arie in einen Paroxismus von Rachsucht steigert. Die Sopranistin Maria Rebeka geht in dem Terzett "Venga, aspettate" mit seinen vielen "con forza" Passagen, die bis auf das hohe H führen, aufs Ganze. Sie singt mit jenem Alles-oder-Nichts-Furor, der Tonschönheit zweitrangig werden lässt. Ihre Partner sind Adam Plachetka als Publio und Tara Erraught als Annio.
    Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, "Venga, aspettate" (Marina Rebeka, Adam Plachetka, Tara Erraught)
    Das furiose Rache-Terzett – bei dem die wilden Ausbrüche der Vitellia von Annio und Publio nicht richtig begriffen werden –, leitet über in ein grandioses und dramatisches Akt-Finale mit dem Brand des Kapitols.
    Wie gern ich auch die Uhren anhalten möchte, um Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, vorzuführen, dass in der theatralisch fesselnden Aufnahme auch kleinere Partien wie die der Servilia mit Regula Mühlemann und die des Annio mit Tara Erraught wundervoll besetzt sind; oder wie stürmisch und doch filigran das Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin musiziert, so bleiben nur wenige Minuten für ein Juwel aus dieser prunkenden Partitur: ein Ausschnitt aus der Arie der Vitellia, die zum Schluss gleichsam in den Spiegel blickt und zur Einsicht über ihr schändliches Tun gelangt. Mozart hatte das Rondo "Non più di fiori vaghe catene" schon vor dem Beginn der Arbeit an der Oper komponiert – für die von ihm bewunderte Sopranistin Josephe Duschek und den Klarinettisten Anton Stadler. Sie hören noch einmal Marina Rebeca, deren Stimme nicht in der Höhe, aber doch in der tiefen Lage, die in das Register eines Alt führt, bis an die Grenzen gefordert ist – und sich behauptet.
    Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, "Non più di fiori" (Marina Rebeka als Vitellia)
    Ein glückliches Ende? Der Schein trügt.
    Eine kurze Coda. "La Clemenza di Tito" endet, der Konvention der opera seria entsprechend, mit einem Gnadenerlass für Sesto wie für Vitellia, die Verantwortliche für den mörderischen Plan. Obwohl alle sich gegen ihn verschworen hatten: Tito bleibt sich treu. Er verzeiht. Aber wirklich an ein lieto fine, an ein glückliches Ende, zu glauben, fällt schwer – wer mag das Unglaubwürdige als Möglichkeit hinnehmen. "La Clemenza di Tito" ist eine Oper des Scheiterns – das Drama von Gescheiterten, die zur Entsagung und Resignation gezwungen werden.
    La Clemenza di Tito
    Wolfgang Amadeus Mozart
    Rolando Villazón, Tito
    Joyce diDonato, Sesto
    Marina Rebeka, Vitellia
    u.a.
    Chamber Orchestra of Europe
    Yannick Nézet-Seguin, Leitung
    Deutsche Grammophon