Freitag, 29. März 2024

Archiv

La Grande Motte in Südfrankreich
Pyramidenstadt am Mittelmeer

Eine weiße Pyramidenstadt im Pinienhain, gebaut 1963 von Jean Balladur in einem ehemaligen Sumpfgebiet bei Montpellier, sollte Touristenhochburg werden. Bei seiner Eröffnung wurde der Badeort als Betonwüste kritisiert - heute ist "die große Düne" eines der beliebtesten Ferienziele Frankreichs.

Von Dorothea Breit | 15.07.2018
    Mittelmeerküste, Pyramidenhäuser von La-Grande-Motte, Languedoc-Roussillon, Frankreich
    Hinter dem breiten Sandstreifen der Kilometer langen Küste von La Grande Motte stehen die weißen Stufenpyramiden der Gebäude wie Skulpturen nebeneinander aufgereiht (imago/Hans Blossey)
    Zwei ältere Herren werfen ihre Angeln im flachen Wasser aus, einige Spaziergänger schlendern vorüber. Hinter dem breiten Sandstreifen der Kilometer langen Küste von La Grande Motte stehen die weißen Stufenpyramiden der Gebäude wie Skulpturen nebeneinander aufgereiht: Verschieden groß mit rasterartigen, rhythmisch variierten runden, ovalen, wellenartigen oder gezackten Balkonfassaden und bunten Markisen. Strahlend und beschwingt wie ein sonniger Ferientag. Die Vision eines Badeorts, der in den 1960er-Jahren aus dem Sand gehoben wurde.
    La Grande Motte morgens am Strand
    La Grande Motte morgens am Strand (Dorothea Breit/deutschlandradio)
    1963: Auftrag von Präsident Charles de Gaulle
    "Die Regierung von Premierminister Georges Pompidou erhielt 1963 den Auftrag von Präsident Charles de Gaulle, diese Region für den Tourismus zu erschließen."
    Richard Félices, der ehemalige Direktor des Kongresszentrums von La Grande Motte. Ich treffe ihn im Piniengarten eines kleinen Hotels zum Interview.
    "Ende der 1950er Jahre erlaubte die wirtschaftliche Lage in Frankreich und ganz Europa Menschen aller sozialen Schichten, in die Ferien zu fahren. In Frankreich gibt es bereits seit 1936 fünfzehn Tage bezahlten Urlaub! Millionen Europäer fuhren also plötzlich mit dem Auto in Urlaub, und das heißt: an Meer! In Frankreich hatten die Wohlhabenden ihre Cote d’Azur, alle anderen fuhren an die Costa Brava. Dazwischen liegt das Languedoc, 180 Kilometer Küste mit Sandstränden, die nicht erschlossen waren, um die neuen Ferienmigranten zu empfangen. Nicht nur Straßen, auch Orte mussten gebaut werden."
    Die große Düne von Jean Balladur
    Sechs neue Ankerpunkte entstanden entlang der Küste, alle von verschiedenen Architekten entworfen. Jean Balladur, 1924 in der Türkei geboren und in Frankreich aufgewachsen, baute La Grande Motte, auf Deutsch: die große Düne. So nannten die Fischer einst diesen Flecken Strand und Balladur wollte den lokalen Namen beigehalten.
    "Er sagte: Orte sind wie Personen, sie haben ihren eigenen Charakter. Deshalb schreibt man sie mit großen Anfangsbuchstaben und La Grande Motte mit großem 'L'."
    Jachthafen im französischen La Grande Motte.  
    Jachthafen im französischen La Grande Motte. (Dorothea Breit/deutschlandradio)
    Richard Felices lebt seit über 30 Jahren hier. Er kannte Jean Balladur noch persönlich.
    "Gegen Ende seines Lebens habe ich ihn kennengelernt, 1999, als wir den Kongresspalast ausbauten. Wir trafen uns mehrmals zu Besprechungen. Er war ein beeindruckender Mensch, körperlich nicht besonders groß, aber er hatte Charisma und "Stil"! Er war ein Literat, ein Mann des 19. Jahrhunderts und sehr gebildet! Er hatte eine wunderbare Art zu sprechen und zu schreiben. In dem Buch, das er uns hinterlassen hat, erzählt er die Geschichte der Entstehung von La Grande Motte und es ist sehr gut geschrieben."
    Der Sartre-Schüler wurde Architekt
    Jean Balladur wollte eigentlich Schriftsteller oder Philosoph werden. Er war ein Schüler von Jean Paul Sartre. Als er 1945 aus dem Krieg zurückkehrte, wechselte er jedoch die Richtung, hielt es für wichtiger, Frankreich wieder aufzubauen, anstatt zu philosophieren, und studierte Architektur. In den 1950er Jahren wurden in Frankreich zerbombte Städte wie Royan, Le Havre, Toulon völlig neu aufgebaut, inspiriert von der Architektur der Moderne und Le Corbusier, funktionalistisch streng vertikal und horizontal. Jean Balladur verfolgte jedoch andere Ideen. In La Grande Motte wollte er etwas schaffen, das die Menschen aus ihrem gewohnten Alltag riss und befreite.
    "1962 weiß er bereits, dass er den Auftrag hat, und fährt nach Brasilien, schaut sich die Stadt Brasilia von Oscar Niemeyer an. Er trifft ihn nicht, ist aber fasziniert davon, wie Niemeyer gekurvte Formen aus Beton baut; keine völlig neue Architektur, im Gegensatz zu Le Corbusier, aber eine Architektur, die Freude macht. Auf der Rückreise besucht Balladur die über 4000 Jahre alte Sonnenpyramide Teotihuacán in Mexiko. Er bemerkt, dass ihre Form mit den umgebenden Vulkankegeln harmonisiert. Zurück in La Grande Motte beginnt er, pyramidale Formen zu studieren, und macht Entwürfe."
    Im Sumpfgebiet entsteht ein gewaltiger Ort
    Sechzig Architekten arbeiteten im Team von Jean Balladur. Zwei Drittel der Gebäude entwarf er selbst, vor allem die Pyramiden am Hafen. Strahlend weiße, stufenförmige Gebäude, die erfrischend aktuell wirken, als ich die autofreie Strandpromenade entlang spaziere. Im Parterre befinden sich Cafés, Restaurants, Boutiquen und Läden. Die Ferienappartements in den Etagen darüber haben Meerblick, Balkone oder Dachterrassen.
    Am Hafen weht eine leichte Brise, Segelboote und Motorjachten dümpeln im Wasser. Wie groß die Herausforderung war, diesen Ort zu bauen, kann man sich heute kaum mehr vorstellen, sagt die Stadt- und Architekturführerin Maria Lazzarini.
    "Hier war Sumpfgebiet, Wildnis. Bevor die Bauarbeiten anfingen, mussten zuerst die Sümpfe trockengelegt, die Brutstätten der Mücken vernichtet, sowie Straßen und Elektrizität angelegt werden. Als Nächstes wurde das Hafenbecken ausgehoben, eine Million Kubikmeter Sand, mit denen das Land aufgeschüttet wurde. La Grande Motte liegt jetzt zwei Meter über dem Meeresspiegel. Andernfalls würde der Ort beim geringsten Sturm überflutet."
    Der Yachthafen von La Grande Motte an der französischen Mittelmeerküste. 
    Der Yachthafen von La Grande Motte an der französischen Mittelmeerküste. (imago/Hans Blossey)
    Die Stadt inmitten des Gartens
    Der aufgeschüttete Sand musste darüber hinaus entsalzt werden, bevor Pinien, Lorbeer und Rhododendron gepflanzt werden konnten. So wurde das Wasser eines Rhonekanals hier durchgeleitet, erzählt Maria Lazzarini. Die Kosten waren enorm, aber Balladur plante eine Stadt inmitten eines Gartens: 70 Prozent der Fläche waren für Vegetation bestimmt, nur 30 Prozent für Gebäude. Natürlich dauerte es einige Jahre, bis das Grün üppig wuchs und die Architekturen harmonisch einbettete.
    Parkanlage mit Bäumen: Siebzig Prozent der Anlage von La Grande Motte wurden beim Bau in den 60er-Jahren begrünt
    Siebzig Prozent der Anlage von La Grande Motte wurden beim Bau in den 60er-Jahren begrünt - das zahlt sich heute aus. (Dorothea Breit/deutschlandradio)
    Im Sommer 1968 wurden die ersten Feriengäste empfangen. Die weißen Pyramiden standen noch etwas kahl im Sand und es gab auch heftige Kritik. Heute jedoch, 50 Jahre später, steht La Grande Motte in voller Blüte inmitten duftender, Schatten spendender Pinienhaine: eine eigenständige Gemeinde mit knapp 9.000 Einwohnern, Schulen vom Kindergarten bis zum Gymnasium und 100.000 Gästen im Hochsommer aus allen sozialen Schichten.
    Wir gehen am Quai entlang bis zur Hafenmeisterei an der Spitze, ein lang gestreckter flacher Bau in Form eines Walfisches.
    "Von hier hat man einen schönen Blick auf die Pyramiden im Zentrum. Balladur wohnte auch in einer mit seiner Familie. Statt Vulkankegel wie in Mexiko sah er hier den Berg Pic Saint-Loup im Hintergrund als Referenz. Babylone, die größte Pyramide hat 15 Etagen und 303 Terrassenappartements. Die Pyramide ist nicht symmetrisch, der Westflügel steigt parabolisch gerundet auf, der Ostflügel zum Stadtzentrum ist pyramidenförmig gestuft. Und schauen Sie die Balkone an - die haben die Form von Bikini-Höschen und - BH’s!"
    "Viel rentabler als die Pyramidenkonstruktionen"
    Ein humorvolles Augenzwinkern des Architekten. Als Hommage an Präsident Charles de Gaulles guten Riecher sind hakennasenförmige Windfänge an Balkonen zu entdecken. Nur das Hotel Mercure, ein turmartiger Block, tanzt aus der Reihe des Pyramidenensembles am Hafen.
    "Balladur war unzufrieden damit, er hielt es für gescheitert. Aber die Bauherren hatten ein Hochhaus mit gleich viel Zimmern auf allen Etagen verlangt. Das war viel rentabler als die Pyramidenkonstruktionen. Wegen dieser Platzverschwendung wurde er auch ständig kritisiert. Aber die Pyramiden sind anders kalkuliert: Sie halten Wind ab, sorgen gleichzeitig für Frischluft, die Dachterrassen dienen der Erholung, genauso wie die großzügigen Parkanlagen. Balladur baute für die Menschen. Er war nicht nur Architekt, er war auch Humanist."
    Die universelle Symbolik der Architektur spiegelt es wider: Das männliche Prinzip verkörpern die Pyramiden, das Weibliche die nachfolgenden runden, gekurvten, im Halbkreis um Gärten angelegten Gebäude westlich des Zentrums; die Venusmuschel aus Botticellis berühmten Gemälde diente hier als Vorbild.
    Symbol für die Stimme des Volkes
    Ein paar Schritte und Straßen vom Hafen entfernt liegt der Stadtplatz im Grünen mit einer großen Brunnenanlage. Zwei riesige schwarze Mammuts stehen darin in abstrahierter Form wie Silhouetten. Die runden Buckel der Tiere wiederholen sich in den Fensterbögen des weißen Rathausgebäudes dahinter.
    "Dieser Platz ist offiziell dem 1. Oktober 1974 gewidmet, aber die Einwohner nennen ihn auch "Platz der drei Mächte", wie in der Stadt Brasilia: Die Kirche steht für das Geistige, das Rathaus für Politik und Verwaltung, der Festsaal für soziales Leben und das Volk. Vom Standesamt im Rathaus schaut man auf das Symbol des Labyrinths, das mit roten und weißen Pflastersteinen in den Platz eingearbeitet ist - das Labyrinth des Lebens. Und im Mammutbrunnen sprudelt das Wasser aus Mündern, das symbolisiert die Stimme des Volkes."
    Religiöse Einflüsse und ein Paradiesgarten
    Unter Pinienschirmen duckt sich die kleine Kirche Sankt Augustinus. Eine Konstruktion weißer Parabelkurven, die sich oben in der Dachkuppel kreuzen und eine Schlaufe bilden zum Glockenturm. Ein verwittertes Holzgestell mit zwei Glocken steht darin.
    "Balladur sagte: Der Wind der Geschichte hat nicht über La Grande Motte geweht. Er wollte etwas Historisches einfügen und fand diesen kleinen Glockenstuhl aus der Epoche von Heinrich IV, Anfang des 17. Jahrhunderts. Er stammt vermutlich aus der Kirche von Montagnac, nicht weit von hier."
    Der Innenraum ist vieleckig rund. Holzpfeiler stützen die gemütliche Holzdecke. Licht flutet durch geschwungene bodentiefe farbige Glasfenstermosaike. Im Chor hinten steht eine Orgel, in der Mitte aufgereiht Stühle mit Blick zu der bogenförmigen Apsis und dem Altar. In einer winzigen Seitenkapelle beten Gläubige den Rosenkranz.
    "Balladur dachte den Ferienort als Paradiesgarten. Im Sommer können sie in der ganzen Stadt im Schatten von Bäumen spazieren. Und zur Messfeier werden die Fenster der Kirche geöffnet und die Stühle rausgestellt. Der Priester wendet sich einfach um und zelebriert die Messe nach draußen."
    "Balladur war sehr religiös. Er hat auch eine Synagoge hier gebaut."
    Pyramidenhäuser von La-Grande-Motte, La Grande-Motte, France, Languedoc-Roussillon, Frankreich 
    Verschachtelt und mit Farbtupfern: die Pyramidenhäuser von La Grande Motte (imago/Hans Blossey)
    Balladurs Lebenswerk ergänzt durch Umweltschutzprojekte
    Das östliche Viertel des Badeorts heißt Sonnenaufgang, das westliche Sonnenuntergang; dorthin legte Balladur auch den Friedhof, in dem er selbst 2002 begraben wurde. Eine lauschig schattige Fußgänger- und Fahrrad-Promenade verläuft von West nach Ost durch den Pinienwald. Hier und dort verstecken sich Grüppchen kleiner, schräg gestufter Familienhäuschen mit Garten. Fußgängerbrücken führen über Straßen. Im Sonnenaufgangs-Viertel liegen die Sportplätze und ein Weiher, der mit dem Meer verbunden ist, sowie eine Rettungs- und Pflegestation für Wasserschildkröten.
    "La Grande Motte engagiert sich sehr für den Umweltschutz."
    Neptungras wird gezüchtet, um das kranke Meer wiederzubeleben und mit Sauerstoff zu versorgen. Seegraswiesen bilden die Grundlage des maritimen Ökosystems. Jean Balladur würde das sicher gefallen. Heute wird sein Lebenswerk, an dem er 30 Jahre lang gearbeitet hat, verstanden und hoch geschätzt. Das Modell La Grande Motte ist aktueller denn je, es steht für Lebensqualität.