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Ländliche USA und Klischeevorstellungen

Mit essayistisch leichter Feder und viel grimmigem Humor entwirft der Autor Joe Bageant ein erschreckendes wie erhellendes Bild der ländlichen USA. Das Buch geht über europäische Klischeevorstellungen hinaus, weil der Autor die politischen Irrwege seiner Arbeiterherkunft begreifen möchte.

Von Florian Felix Weyh | 06.11.2012
    Sie trinken Diätpepsi aus Literbechern mit eingebauter Beleuchtung und kaufen Hüte mit integrierter Bierdosenhalterung, obwohl sie eigentlich jeden Dollar ihres kargen Monatslohns auf Nahrung oder Hygieneartikel verwenden sollten.

    "Der enorme Erfolg von Junk-Mart-Produkten könnte sogar als Beleg dafür dienen, dass sich amerikanische Arbeiter für einen angemessenen Lohn einfach nicht eignen. Hier ist das letzte Wort allerdings noch nicht gesprochen."

    ... kommentiert gallig der Beobachter, der allerdings mit dem Herzen durchaus bei seinen Schäfchen ist, entstammt er doch der Schicht, die er nach 30 Jahren Abwesenheit – und kulturellem wie intellektuellem Aufstieg – wieder besucht: Arbeiter der nordamerikanischen Kleinstadt Winchester/Virginia. Dort will er den für ihn schwer begreifbaren Umstand ergründen, warum in den USA die Arbeiterklasse politisch rechts steht und sich der Republikanischen Partei als willfährige Beute feilbietet. Von "Arbeiterklasse" redet allerdings auch in den Staaten kaum noch jemand, längst hat sich der Euphemismus von der "Mittelschicht" wie Mehltau auf den Blick gelegt und verschleiert, dass sich diese "Mittelschicht" aus eigener Kraft kaum in der Mitte halten kann. Nehmen wir ein junges Ehepaar wie Carolyn und Ron:

    "Sie als arm zu bezeichnen, trifft die Sache nicht richtig, es sei denn, Sie legen das vorhandene Nettokapital als Maßstab an. Dann würde die Einstufung 'arm' nicht ausreichen, weil 'arm' gleich 'null Kapital' bedeutet. Wenn jemand aber mit Hunderttausenden von Dollar in der Kreide steht, ohne Aussicht darauf, diese jemals vollständig zurückzuzahlen, dann liegt er unter null. Doch zwischen Schulden und Armut besteht nach amerikanischer Sicht der Dinge kein Bezug."

    Noch bevor die Immobilienblase platzte, beschrieb Joe Bageant hellsichtig die Mechanismen jener Überschuldung, die amerikanische Arbeiter zu nominellen Hausbesitzern und Inhabern von acht Kreditkarten machten, in Wahrheit aber deren lebenslängliche Perspektivlosigkeit zementierten. Bei Jahreseinkommen zwischen 16.000 und 32.000 Dollar in einem unqualifizierten McJob bleibt kein Spielraum, sich je aus dem Schuldgefängnis zu befreien; schon eine Arztrechnung kann den Absturz auslösen. Der bittere Witz: Hausbesitz, ein überteuertes Wohnmobil oder ein überdimensioniertes Auto aus US-Produktion stiften die Selbstwahrnehmung als erfolgreicher Amerikaner, ohne dass die wahren Besitzverhältnisse reflektiert würden. Man fühlt sich frei und verachtet all jene, die einem sagen, dass man eigentlich unfrei sei oder ein Recht auf staatliche Unterstützung habe, wie es die Politiker der Demokratischen Partei tun. So trifft Joe Bageant einen alten Schulfreund, der trotz der gemeinsamen jugendlichen Flowerpowerphase mit Drogenexperimenten zum prototypischen Konservativen geworden ist:

    "1976 wurde er in Christus wiedergeboren. (...) Auf Jim Beam steht er ebenso wie auf die Republikanische Partei. (Zum Thema Jim Beam lautet Toms Wahlspruch: 'Gott verbietet Trunkenheit, nicht das Trinken.') Bei der Arbeit ist sein Radio auf konservative Talkshows eingestellt, sein Fernsehkonsum zu Hause beschränkt sich im Wesentlichen auf Fox TV. Der Unterschied zwischen Repräsentantenhaus und Senat hat sich Tom, wie vielen Einheimischen aus der Arbeiterschicht, nicht so wirklich erschlossen. Nach seinem Demokratieverständnis ist die Meinung eines jeden Amerikaners gleich viel wert, ob sie nun auf politischem Wissen beruht oder nicht. Er hat noch nie mit einer Gewerkschaft zu tun gehabt, noch nie einen Collegekurs besucht und erwartet generell nicht allzu viel von seinem Leben."

    Pars pro Toto bestimmt dieser Tom, wer amerikanischer Präsident wird. Er verhalf George W. Bush trotz seiner haarsträubenden politischen Bilanz zur zweiten Amtszeit und hätte nie einem Obama seine Stimme geben. Mit essayistisch leichter Feder und viel grimmigem Humor entwirft Joe Bageant ein gleichermaßen erschreckendes wie erhellendes Bild der ländlichen USA, doch geht sein Buch über europäische Klischeevorstellungen hinaus, weil der Autor die politischen Irrwege seiner Herkunftsschicht begreifen möchte:

    "In Toms Welt sind 'gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte, die vierzig Dollar die Stunde kassieren, keine echten Arbeiter', sondern 'gierige Arschlöcher, die den Preis für amerikanische Autos so in die Höhe treiben, dass der Rest von uns sie sich nicht mehr leisten kann."

    Freund-Feind-Denken primitiver Art, gepaart mit einer selbstmörderisch verschobenen Selbstwahrnehmung: Jede Lohnminderung, jeder Stellenabbau wird folgsam hingenommen, um zusammen mit dem Unternehmen (ihm gilt die Solidarität) auf dem Weltmarkt mithalten zu können. Der amerikanische Arbeiter ist tough genug, auf europäische Sozialstaatsverweichlichungen verzichten zu können. "Politisch fehlinformiert oder passiv, und patriotisch, auch wenn es zu ihrem eigenen Schaden ist", beschreibt Bageant die Grundhaltung dieser Schicht von fast einem Viertel der US-Bevölkerung. Geleitet würden die Menschen von "Gefühl statt Verstand"; ihre politischen Entscheidungen basierten auf "Furcht, Unwissenheit und Propaganda", was bei einem Gemeinwesen nicht wundere, dessen Stabilität auf den Grundkomponenten Fernsehen und Öl beruhe. Und da die Republikaner keine davon abweichenden Werte besäßen, sammelten sie diese Wählerscharen mühelos ein, während den Demokraten ein gravierendes Mentalitätsproblem im Wege stünde. Hier nimmt der Essay eine verblüffende Wendung:

    "In Millionen Familien meiner Schicht lautet die erste Frage nach dem Tod eines Vaters: 'Wer kriegt Daddys Waffen?' Für die Ohren derjenigen, die nicht in einem kulturellen Milieu groß geworden sind, in dem das Jagen historisch verwurzelt ist, mag das seltsam klingen."

    Nicht nur seltsam, sondern verwerflich – und das bricht den auf schärfere Waffengesetze abonnierten Demokraten regelmäßig das Genick. Der für amerikanische Verhältnisse überaus europäisch wirkenden Joe Bageant plädiert deshalb lange und durchaus geistreich für die Freiheit des Waffentragens. So lange sich, sagt er, die städtisch geprägten Demokraten mit diesem Angriff auf die ländliche Identität unbeliebt machten, würden sie die amerikanische Arbeiterschaft kaum erreichen. Selbst dann wäre es immer noch schwer genug, die Verquickung von Jagdfreiheitsgefühl und evangelikaler Indoktrination aufzubrechen, wie sie der Buchtitel "Rehwildjagd mit Jesus" anklingen lässt. Geschrieben 2006 und 2007, hätte das Buch 2008, nach Obamas kometengleichem Aufstieg, niemanden interessiert; die darin beschriebenen Verhältnisse erschienen für einen historischen Sekundenbruchteil überwunden. Heute, vier Jahre später – und ein Jahr nach dem frühen Tod des Autors –, erscheint das Buch wieder brandaktuell. Nach der Lektüre kann man an eine zweite Amtszeit Barack Obamas kaum noch glauben. Ja seine Präsidentschaft erscheint wie der zeitweilige, systemwidrige Einbruch europäischer Normen und Ziele in eine US-amerikanische Gesellschaft, die weitaus verbohrter, fundamentalistischer und Demokratie ferner erscheint als so manches osteuropäische Land mit kommunistischer Vergangenheit. Den europäischen Idealen ruft Joe Bageant übrigens einen traurigen Satz hinterher, als ahnte er, dass sie auf seinem Kontinent nie wirklich Fuß fassen würden:

    "Geliebte, bedauernswerte Aufklärung! All zu kurz war Deine Blüte! Zwei Weltkriege, Verdun, Dresden, Auschwitz, die Gulags, Atomwaffen und die sich anbahnende ökologische Katastrophe gaben Dir dann endgültig den Rest."

    Joe Bageant: "Auf Rehwildjagd mit Jesus", aus dem Amerikanischen von Klaus H. Schmidt und Ulrike E. Köstler, Verlag André Thile, 360 Seiten, 18,90 Euro