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Längere Tage durch Klimawandel
Gletscherschmelze verlangsamt Erdrotation

Walter Munk gehört zu den renommiertesten Geophysikern und Ozeanographen des vergangenen Jahrhunderts. Das Spezialgebiet des inzwischen fast 100-jährigen Forschers war die Erdrotation. Was hinter diesem Rätsel steckt und warum Forscher nun glauben, es gelöst zu haben, das wird heute auf der Tagung der Amerikanischen Geophysikalischen Union in San Francisco behandelt.

Von Dagmar Röhrlich | 14.12.2015
    Ein Effekt des Klimawandels ist der Meeresspiegelanstieg. Und der hat nicht nur offensichtliche Folgen wie Überflutungen, sondern auch subtile, etwa für die Erdrotation:
    "Im Lauf des 20. Jahrhunderts ist der mittlere Meeresspiegel um ein bis zwei Millimeter pro Jahr gestiegen - vor allem, weil Gletscher und Inlandeis schmelzen. Da sich die Eismassen an den Polen konzentrieren und die Schmelzwassermassen zum Äquator strömen, wird die Erde langsamer - so wie ein Schlittschuhläufer, der bei einer Pirouette die Arme ausstreckt. Der Effekt sollte winzig sein, aber messbar."
    Erklärt Jerry Mitrovica von der Harvard University in Cambridge, MA. Genau dieser winzige Effekt interessiert den Ozeanographen Walter Munk, dessen Spezialgebiet die Erdrotation ist. In seinen Berechnungen ergab sich jedoch ein Problem: Er konnte den Effekt des Klimawandels auf die Tageslänge nicht nachvollziehen. Und so veröffentlichte er 2002 in einem Fachmagazin einen Aufsatz mit dem Titel: "Der Meeresspiegelanstieg im 20. Jahrhundert - ein Rätsel".
    Um den Effekt des Klimawandels nachzuvollziehen, hatte Munk zunächst alle anderen Einflüsse herausrechnen müssen. Allen voran den "Eiszeit-Effekt". Der entsteht weil im Lauf von zehntausend Jahren ungeheuer viel Eis schmolz und sich seitdem das von dieser Last befreite Land hebt. Weil das Gestein des Erdinneren durch Hitze und Druck viskos ist und langsam auf Veränderungen reagiert, wirken diese Umverteilungen der Massen noch heute nach.
    Munk berechnete dann mithilfe von modernen Satellitendaten und astronomischen Messungen aus Altertum und Antike die Größe des "Eiszeit-Effekts" auf die Erdrotation. Allerdings konnte er dann mit ihm allein die gesamte Verlangsamung seit dem Ende der Eiszeit erklären. Für den Effekt des Meeresspiegelanstiegs durch den Klimawandel blieb nichts übrig. Munk fragte: Wie kann das sein?
    Dieser Widerspruch fand Eingang in die Fachliteratur als Munks Enigma: Das Rätsel also, warum der Meeresspiegelanstieg durch den Klimawandel die Erddrehung überhaupt nicht zu beeinflussen scheint. Mit seinem Aufsatz bat Walter Munk die Forschergemeinde um Hilfe. Die Suche nach der Lösung erwies sich als schwierig. Aber jetzt hoffen Jerry Mitrovica und seine Kollegen, die richtige Antwort zu haben:
    "Am einfachsten lässt es sich so sagen: Munk hat ein falsches Modell für den Eiszeit-Effekt eingesetzt. Er ging davon aus, dass die Gesteine des Erdinneren weniger viskos sind und damit schneller auf Veränderungen reagieren, als das tatsächlich der Fall ist. Sein altes Modell spiegelt also die Reaktion des Planeten nicht korrekt wieder. Außerdem fiel der klimabedingte Meeresspiegelanstieg im 20. Jahrhundert etwas geringer aus als noch von Munk angenommen: Statt zwei Millimetern liegt er bei jährlich einem bis anderthalb Millimetern. Wir verstehen also einige Prozesse heute besser als vor 15 Jahren."
    Dann erläutert Jerry Mitrovica noch einige anderen Korrekturen. Füge man sie alle zusammen, bliebe genau der Effekt übrig, den die Geophysiker erwartet hätten:
    "Es geht um eine Millisekunde, die der Tag im Lauf des 20. Jahrhunderts durch den menschengemachten Klimawandel länger geworden ist. Das ist genau das, was wir bei einem Meeresspiegelanstieg von einem Millimeter pro Jahr erwarten würden."
    Dieser Lösungsvorschlag wird wohl eine wissenschaftlichen Debatte eröffnen. Und der Knackpunkt dürfte die Frage sein, ob die neuen Annahmen über die Viskosität des Erdmantels korrekt sind.