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Läuterung durch Grausamkeit

John Cheever, einer der großen amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts, blieb in Deutschland eher unbekannt. Seit einigen Jahren bringt der DuMont-Verlag Neuübersetzungen seiner wichtigsten Werke heraus. Nun war der Gefängnisroman "Willkommen in Falconer" an der Reihe. Ein existenzielles Buch –und Beispiel dafür, dass Cheever es seinen Helden nicht leichter machte, als sich selbst.

Von Ulrich Rüdenauer | 26.07.2012
    "Das Gefängnis", schrieb Victor Hugo in seinem Roman "Die letzten Tage eines Verurteilten", "ist ein Wesen von schrecklicher Art, vollständig, unteilbar, halb Haus, halb Mensch. Ich bin seine Beute." Das Gefängnis ist im wahrsten Sinne des Wortes ein geschlossener Kosmos. Es herrschen darin eigene Gesetze für die Gesetzlosen. Es existiert eine Infrastruktur, die ganz darauf angelegt ist, eine autarke, uneinnehmbare Insel innerhalb einer kontingenten Welt zu schaffen. Im Gefängnis schrumpft die Wahlfreiheit auf ein Minimum. Und gleichwohl sind darin viele richtige und noch mehr falsche Entscheidungen zu treffen. Wer eintreten muss in diese geschlossene Gesellschaft, steht unter der Obhut einer größeren Gewalt – und der seiner eigenen Fantasien, die in der Gefängniszelle eine noch imposantere Macht entfalten als sie es in der Freiheit tun würden.

    "Farragut (Brudermord, bis zu zehn Jahre, Nr. 734-508-32) wurde an einem Spätsommertag in diesen alten Eisenkäfig gebracht. Er trug keine Fußeisen, war jedoch mit Handschellen an neun andere Männer gekettet, vier davon schwarz, und alle jünger als er."

    Ezekiel Farragut, ein Universitätsprofessor mit einer geradezu klassisch anmutenden neurotischen Beziehung zu seiner Upper-Class-Familie, tötet im Streit seinen Bruder – nur eines der vielen biblischen Motive, die sich in John Cheevers vielleicht vielschichtigstem Roman finden lassen. "Willkommen in Falconer" aus dem Jahr 1977 erschien erstmals 1978 in deutscher Übersetzung, und es mag, wie Peter Henning in seinem Nachwort der Neuausgabe andeutet, nicht zuletzt an dieser ersten Übertragung gelegen haben, dass dem Buch der Erfolg versagt geblieben ist. Die neue Übersetzung von Thomas Gunkel ist gewiss zeitgemäßer, sie verfügt über ein Gespür für verschiedene Sprachebenen, hat einen Sinn für den Rhythmus des Buches, der durch den Gefängnisalltag bestimmt ist. Das ist auch das Ungewöhnliche an Cheevers Roman: Erwartet man zunächst die allmähliche Zerstörung des Protagonisten, der als Drogenabhängiger in den Knast kommt und als Angehöriger der Bildungselite unter den anderen schweren Jungs wie das geborene Opferlamm erscheinen müsste, so erleben wir im Gegenteil eher eine Wiedergeburt: Farragut wird durch den Freiheitsentzug von einer unbefriedigenden Ehe befreit; er verliebt sich in einen – allerdings sehr berechnenden – Mithäftling; er wird unversehens von seiner Drogensucht geheilt. Und er hat durchaus ein Gespür für die Codes und Benimmregeln innerhalb der Gefängnismauern. Er hat aber auch ein Gefühl für die Verzweiflung, die in ihm durch eine unbeherrschbare Begierde und die zwar seltenen, aber immer wieder erlebten Gewaltexzesse und Machtdemonstrationen des Wachpersonals hervorgerufen wird. "Willkommen in Falconer" ist ein existenzielles Buch, die Geschichte einer Läuterung durch Grausamkeit. Da muss einer in den Kerkern verschwinden, bevor er sich neu erfinden kann.

    "Farragut fühlte sich impotent. Kein Mädchen, kein Arsch, kein Mund konnte seinen Schwanz aufrichten, doch er war nicht dankbar für das Erlöschen seiner Lüsternheit. Das letzte Licht dieses schweißtreibenden Tages war weißlich, der weiße Widerschein, den man in den Fenstern toskanischer Gemälde sieht, ein vergehendes Licht, das jedoch den Sehnerv, die gesamte Wahrnehmungskraft auf einen Höhepunkt zu bringen scheint. Nackt, bar jeglicher Schönheit, übelriechend und gedemütigt von einem Clown in schmutzigem Anzug und schmutzigem Hut, waren sie auf diesem Höhepunkt des Lichts in Farraguts Augen alle bloß Kriminelle. Keine der grausamen Erfahrungen in ihrer Kindheit – weder Hunger noch Durst oder Prügel – konnte ihre Brutalität, ihre selbstzerstörerischen Diebstähle und ihre aufzehrenden, perversen Süchte erklären. Sie waren Seelen, die nicht erlöst werden konnten, und obwohl die Buße eine plumpe, grausame Antwort war, konnte man sie als Hinweis auf das Mysterium ihres Falls betrachten. In dem weißen Licht waren sie in Farraguts Augen alle Gefallene."

    Aus den Tagebüchern John Cheevers, aus seiner Biografie weiß man, dass Farraguts Kämpfe, seine Homosexualität, seine Sucht – dass die Überschreitungen von gesellschaftlichen Konventionen auch Cheever selbst beschäftigt und gequält haben. "Willkommen in Falconer" ist nicht zuletzt deshalb von solcher Intensität, weil es die Widersprüche und das Gefangensein des Autors selbst in einprägsame, gültige Bilder übersetzte. Das Gefängnis ist der Ort, an dem das Subjekt weggeschlossen, seines Subjektseins beraubt wird – und doch zu sich kommt. Es ist diese wesentliche Ambivalenz, die über das Geschehen des Romans hinausweist. Es gibt bei diesem Intellektuellen hinter Gittern, der verschiedene Stadien des Wahns durchläuft und einen kalten Entzug erleidet, eine Form der Transzendenzerfahrung, die Cheever immer wieder symbolisch andeutet.

    "Ich bin Strafgefangener. Mein Leben ist angelehnt an das traditionelle Leben der Heiligen, doch ich scheine von der gesegneten Gemeinschaft aller Gläubigen vergessen worden zu sein."

    Am Ende werden wir Zeuge einer Auferstehung: Farragut nimmt die Rolle eines toten Mitgefangenen ein, versteckt sich in dem für den anderen bestimmten Leichensack, verlässt auf diesem Weg das Gefängnis und kommt aus dem Jenseits wieder zurück in die diesseitige Welt. Er musste erst im Schattenreich unter den anderen Schatten gewesen sein, um zu erkennen, was ihm das Leben bedeutet. Seine Flucht, zunächst noch unsicher und voller Zweifel, ist schließlich ein Neuanfang in der Welt, aus der er durch seine Tat verschwinden wollte.

    "Farragut ging im Bus nach vorn und stieg an der nächsten Haltestelle aus. Als er auf die Straße trat, merkte er, dass er seine Angst vorm Fallen und alle anderen derartigen Ängste verloren hatte. Er hielt den Kopf hoch, den Rücken gerade und ging mit festem Schritt die Straße entlang. Freu dich, dachte er, freu dich."


    John Cheever:
    "Willkommen in Falconer"

    Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel.
    DuMont. Köln 2012. 224 Seiten. 19,99 Euro.