Samstag, 30. März 2024

Archiv


Lagerhaft wegen geschmackloser Kunst

In einer Kunstausstellung provozierte Andrej Jerofeev mit einer kaviarbefüllten Ikone. Schon über zwei Jahre lang dauert nun der Strafprozess in Moskau dazu an - und er wird womöglich zu einem weiteren Präzedenzfall im Umgang mit kritischer Meinung und Kunst in Russland.

Von Robert Baag | 12.07.2010
    Andrej Jerofeev, einst Abteilungsleiter in der weltberühmten Moskauer Tretjakov-Gemälde-Galerie, ist Realist:

    "Alles ist möglich", sagt der 54jährige Experte für zeitgenössische Kunst, "wie das halt immer so ist bei uns: Das, was keiner erwartet. Also: Das Allerbeste oder das Allerschlechteste!"

    Über zwei Jahre dauert nun schon der Strafprozess, in dem er und der Mitangeklagte Jurij Samodurov sich wegen "Schüren religiösen Hasses" vor Gericht verantworten müssen. Heute Mittag will Richterin Aleksandrova ihr Urteil sprechen. "Drei Jahre Lagerhaft für beide", so lautet der Strafantrag des Staatsanwalts.

    Anzeige erhoben hatte ein gewisser Oleg Kassin für die sogenannte "Volksversammlung", eine nationalistisch-fundamentalistische Vereinigung, die gern von Gott, Blut und Boden raunt, für Zensur und Todesstrafe eintritt und "Nationalismus" mit "russisch-orthodoxem Glauben" gleichsetzt. Kassin war auch schon mal stellvertretender Vorsitzender der inzwischen verbotenen antisemitischen Organisation "Russische Nationale Einheit".

    Eine Ikone, gefüllt mit Kaviar, Jesus als Mickey Maus oder bei einer andern Collage in eine Cola-Werbung montiert, darunter der Spruch: "Dies ist mein Blut". Über 20 Exponate dieser Art, die teils noch zu Sowjetzeiten entstanden sind, haben Jerofeev und Samodurov im Moskauer "Andrej-Sacharov"-Museum gezeigt, benannt nach dem berühmten Sowjet-Dissidenten. Samodurov war damals noch Leiter dieses Hauses.

    "Verbotene Kunst" nannten sie die Ausstellung, konzipiert als eine Art Peepshow: Wer die Collagen, Bilder, Fotografien betrachten wollte, war gezwungen, durch kleine Gucklöcher zu starren...

    Jerofeev hat nachweisen können, dass Kassin selbst die Ausstellung nie betrachtet haben kann, seine Anzeige also auf Hörensagen hin gestellt worden ist. - Pawel Lungin, ein auch im Westen bekannter russischer Filmregisseur, ist wie zwölf weitere Kunstschaffende in einem "Offenen Brief" mit den beiden Angeklagten solidarisch. Für ihn geht bei diesem Prozess um Grundsätzliches:

    "Da gibt es die eine ästhetische Position genauso wie die andere, die eine ideologische Position - und auch die andere. Das ist völlig normal. So wie es auch normal ist, dass sehr viele Menschen moderne Kunst nicht ausstehen können. Und zwar nicht nur in Russland, sondern weltweit. Alles mögliche Neue, Experimentelle wird zunächst gehasst, deswegen geschehen sogar Morde, nach einigen Jahren dann erfährt es Anerkennung."

    Zunächst nur merkwürdig, dann aber schrecklich sei es vorgekommen...

    "...dass der Staat sich eine der Positionen in diesem ideologischen und ästhetischen Streit zueigen gemacht und die andere Position zugleich als verbrecherischen Straftatbestand benannt hat. Allein schon deshalb, weil das Gericht diese Klage entgegengenommen hat."

    Die bilanzierende Zwischenanalyse des angeklagten Ex-Museumsdirektors Samodurov fällt nicht weniger ernüchternd aus:

    "Die Richterin steht unter großem Druck. Während der vergangenen Jahre läuft in unserem Land eine halb freiwillige, halb aufgezwungene Nötigung hin zur russisch-orthodoxen Religion als eine Art Surrogat für eine national-patriotische Selbsterkenntnis der Russen, des russischen Volkes, verkörpert durch den russischen Staat. Und unterstützt wird diese Strömung leider auch von Präsident Medvedev."

    Die Amtskirche unter Patriarch Kirill gibt sich unbeeindruckt. Eine Haftstrafe für die Beiden halte er zwar für zu hart, hat jetzt ihr Sprecher Vater Vladimir Vigiljanskij im Sender "Echo Moskvy" eingeräumt. Aber Zensur übe doch nicht die Kirche aus.:

    "Es regiert die Abgeschmacktheit! Auf den Fernsehschirmen, in der Musik - und: in der Welt der Kunst! Wenn es also Zensur bei uns gibt, dann ist es die Zensur der Plattheit, die nicht Hohes zulässt!"

    "Der schon zwei Jahre dauernde Strafprozess zeigt, dass wir mit einem Bein wieder in der Sowjetunion stehen, mit dem anderen aber - wenn es nach diesen Jungs geht - in einem Staat wie dem Iran!", kommentiert derlei der Regisseur Pawel Lungin. Nackte Körper, staatsfeindliche Losungen müsse man dann natürlich verbieten. Der Samodurov-Jerofeev-Prozess sei also ein echter Präzedenzfall: "In so einem Staat haben wir alle schon mal gelebt", schließt Lungin. "Wir wissen, wie so was endet..."