Donnerstag, 28. März 2024

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Laizität in Frankreich
Ein Instrument der Freiheit

Rassistische, antisemitische, antichristliche und anti-islamische Akte haben in Frankreich zugenommen. Präsident Macron spricht von einer zunehmenden Zersplitterung der Gesellschaft. Aufrufe zur Gewalt sind lauter als die Stimmen der Vernunft, die sich für Toleranz und Respekt einsetzen. Doch die gibt es auch.

Von Birgit Kaspar | 27.03.2020
Nicole Yardeni steht vor der "Mauer der Gerechten" in Toulouse
Nicole Yardeni ist Ehrenpräsidentin des regionalen Rates der jüdischen Institutionen in Frankreich (Deutschlandradio / Birgit Kaspar)
Ein kleines Mädchen fährt mit ihrem Roller lachend durch den Jardin des Plantes im Zentrum von Toulouse. Die Eltern spazieren mit ihrem jüngeren Bruder an der Hand hinterher. Vorbei an einem Mittdreißiger maghrebinischer Herkunft, der auf einer grünen Holzbank über Kopfhörer lauten arabischen Rap hört.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Laizität in Frankreich - Verschleierte Debatte".
Einige Juden, die gerade aus der nahe gelegenen Synagoge kommen, grüßen einander im Vorbeigehen. Vögel zwitschern und nichts scheint diese Oase des friedlichen Zusammenlebens zu stören. In einer Stadt, in der der islamistische Terrorist Mohammed Merah 2012 vier Juden tötete, in der Spannungen und in einigen Problemvierteln auch Gewalt keine Seltenheit sind.
Nicole Yardeni liebt diesen Garten. Er erinnere sie an die Zeit, als sie mit ihren Kindern herkam. Die Zahnärztin und Ehrenpräsidentin des regionalen Rates der jüdischen Institutionen in Frankreich CRIF führt mich zur "Mauer der Gerechten", einem beinahe unscheinbaren Monument an einer Weggabelung, an dem viele Familien achtlos vorbeigehen.
Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg
Unter den 361 in braunem Marmor eingravierten Namen steht: "Jeder, der ein Leben gerettet hat, rettet die Menschheit." Für die 61-jährige Französin ist dies eine Botschaft des Lichts in finsteren Zeiten. Denn es waren Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlichen Glaubens, die Juden während des Zweiten Weltkrieges geholfen haben. Das habe etwas mit Laizität zu tun, meint Yardeni, denn: "Es bedeutet genau wie das Symbol dieser Stele der Gerechten, dass ein Zusammenleben in einer geeinten, sozialen und solidarischen Republik möglich sein muss, egal welche Konfession wir haben oder ob wir gar keine haben."
Die blauen Augen von Nicole Yardeni lächeln meistens. Für sie bedeutet Laizität vor allem Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Neutralität des Staates. Ein Ideal mit einer spirituellen Dimension.
"Diese spirituelle Dimension beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Religion. Sie ist offen und, ja, man muss sie sich zu eigen machen und dafür bedarf es der Reife. Man sollte sich niemals entwürdigt oder erniedrigt fühlen. Darum geht es nicht. Laizität ist ein Instrument der Freiheit."
"Kopftuchdebatte beschädigt die Laizität"
Eine junge Mutter mit islamisch gebundenem Kopftuch schiebt ihren Kinderwagen an uns vorbei. Unterlaufen das islamische Kopftuch oder die jüdische Kippa die Laizität der Gesellschaft? Weder das eine noch das andere, betont Nicole Yardeni. In ihren Augen ist die immer wiederkehrende oft aufwieglerische Kopftuchdebatte im Namen der Laizität ein Beispiel dafür, wie dieses Prinzip missbraucht wird.
"Das beschädigt die Laizität, denn es provoziert ihre Ablehnung und viele Missverständnisse. Das wiederum dient nur den Extremen in der Gesellschaft. Indem man die Laizität auf so schäbige Weise gegen den Islam benutzt, fördert man im Grunde den Diskurs der Islamisten. Denn notwendigerweise antworten sie, seht her, man attackiert euch. Aber wir werden uns alle verteidigen. Das führt zu einer absurden Situation für die komplette Gesellschaft."
Wenn Politiker solche Debatten im Namen der Laizität anzettelten, egal ob sie am rechten oder linken Rand des politischen Spektrums angesiedelt seien, dann spalteten sie die Gesellschaft statt sie zu vereinen.
"Mit Laizität hat das nichts mehr zu tun. Es ist eine Instrumentalisierung genauso wie eine Religion instrumentalisiert werden kann. Also haben wir es mit einer Instrumentalisierung gegen eine andere zu tun. Die Laizität will das Gegenteil: allen Glaubensformen oder auch Nichtglaubensformen erlauben, im öffentlichen Raum friedvoll zusammen zu existieren."
Gesellschaftliches Reizklima fördert Antisemitismus
Nicole Yardeni zupft an dem Schal, den sie über ihrem blauen Wintermantel trägt. Das Resultat dieses Missbrauchs sei ein gesellschaftliches Reizklima, in dem auch der Antisemitismus mit seiner komplexen Geschichte wieder mehr Platz finde.
"Unsere Gesellschaften sind erregt, sie sind sie unangemessen aufgeregt. Und dann hängt man sich an der Kippa eines Mitbürgers auf oder am Schleier eines anderen, an Kleinigkeiten, wie mir scheint. Anstatt darüber nachzudenken, wie wir dem Leben in unserer Gesellschaft einen Sinn geben können. Einer Gesellschaft, die nicht so tragische Ereignisse durchlebt, wie Europa sie in seiner Geschichte gekannt hat und andere sie heute durchaus erfahren."
Dieses Klima führe zudem dazu, dass sich Parallelgesellschaften bildeten. Jede Gruppe ziehe sich in eine Art Blase zurück.
"Man sieht nur noch die Leute, die ähnliche Ideen haben. Wie kann man da lernen, zu miteinander zu streiten? Ohne gleich zur Gewalt zu greifen. Wo kommen wir hin? Es ergibt keinen Sinn."
Wir gehen ein Stück durch den Garten, im Schatten hoher Koniferen, bevor wir den Ausgang erreichen. Es werde in Zukunft darauf ankommen, Dialogbereitschaft zu fördern, betont Nicole Yardeni. Laizität sollte dabei eigentlich helfen. Aber auch die Wahl der Worte sei von großer Bedeutung.
"‚Wir‘ und ‚Ihr‘, das schockiert mich eigentlich gar nicht. Wenn man dem hinzufügt: Wir sind zwar unterschiedlich, aber wir können gemeinsam existieren, wir können miteinander reden, wir können unterschiedlicher Meinung sein, aber wir haben die gleiche Würde. Das Wichtige ist doch, diese Würde zu respektieren."