Dienstag, 16. April 2024

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Lale Akgün (SPD)
"Erdogan steckt in einer leichten Krise"

Die Freilassung mehrerer deutscher Bürger aus der Untersuchungshaft in der Türkei kein Zeichen für eine erneute Annäherung zwischen Erdogan und Deutschland, sagte die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün im DLf. Sie vermute dahinter vielmehr "eine momentane Bauchentscheidung" Erdogans.

Lale Akgün im Gespräch mit Stephanie Rohde | 23.12.2017
    Porträt von Lale Akgün
    Erdogans einziges Interesse sei, möglichst lange an der Macht zu bleiben, erklärte die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün im Dlf (imago / Horst Galuschka)
    Stephanie Rohde: Nach Monaten in Untersuchungshaft wurde also die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu in dieser Woche überraschend freigelassen, ein weiterer Deutscher – wir haben es gehört – wurde freigelassen, einer durfte ausreisen. Darüber habe ich vor der Sendung gesprochen mit Lale Akgün, sie war die Islam-Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion und ist jetzt Senior Researcher an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Und ich wollte von ihr wissen, ob man nach dieser Woche sagen kann: Leise, aber sicher nähern sich Türkei und Deutschland an?
    Lale Akgün: Ich weiß nicht, ob die Formulierung so stimmt. Denn ich meine, Deutschland hat sich ja nie entfernt. Es war ja immer die Türkei, die agiert hat, und Deutschland hat reagiert. Das heißt, die Fäden dieser ganzen Konflikte liegen ja in den Händen der türkischen Regierung. Sie beschließen, dass sie Leute festnehmen, sie beschließen, dass sie wieder Leute freisetzen, und Deutschland agiert [Anmerkung der Redaktion: Gemeint ist reagiert]. Aber ich glaube, diesmal hat die deutsche Regierung klug agiert, sodass auch einige Menschen freigekommen sind.
    Rohde: Über die Rolle der deutschen Regierung würde ich gleich noch gerne sprechen. Lassen Sie uns erst schauen auf diese Freilassungen! Sind das eindeutige Signale, positive Signale, wir wollen deeskalieren?
    Akgün: Nein, so würde ich es nicht bezeichnen wollen. Ich glaube, das sind momentane Bauchentscheidungen von Herrn Erdogan, denn er fällt ja leider immer noch alle Entscheidungen in der Türkei. Im Moment, glaube ich, steckt er in einer doch leichten Krise. Er hat große Probleme mit den USA, die Innenpolitik wird von der schlechten Wirtschaftslage und der Inflation beherrscht, er kann sich also weitere eigentlich Kriegsschauplätze nicht leisten. Also kann ich mir vorstellen, dass er auf die Avancen, sage ich mal, der deutschen Regierung eingegangen ist und hat Milde walten lassen.
    Rohde: Aber der türkische Außenminister hat schon vor ein paar Monaten Richtung Deutschland gesagt: Wenn ihr einen Schritt auf uns zugeht, dann gehen wir zwei auf euch zu! Also da ist doch tatsächlich schon eine längere Bereitschaft auch signalisiert worden, das ist doch jetzt nicht nur einfach ein Bauchgefühl!
    Akgün: Also ich bin da immer sehr vorsichtig. Ich glaube, dass die türkische Regierung eigentlich nur ein Interesse hat, nämlich so lange wie möglich an der Macht zu bleiben. Außenpolitik und außenpolitische Interessen werden dem Ganzen untergeordnet.
    Und selbstverständlich hat natürlich die Türkei auch Interesse, die Beziehung zu Deutschland nicht zu sehr eskalieren zu lassen, denn schließlich leben ja drei Millionen türkischstämmige Menschen hier. Aber man darf nicht vergessen, dass gleichzeitig auch auf türkischen Fernsehsendern wirklich hanebüchene Dinge erzählt werden wie zum Beispiel, in Deutschland hätten türkische Staatsbürger keine Möglichkeit, frei zu reisen, sie würden unterdrückt. Also gleichzeitig wird weiter in der Türkei Stimmung gegen Deutschland gemacht.
    "Erdogan hat sich die ganze Zeit immer auf die Rolle des neuen Kalifen vorbereitet"
    Rohde: Lassen Sie uns noch mal kurz schauen auf die Strategie, die dahinter steht bei Erdogan! Kann es sein, dass er gerade eine Schwäche in der Region des Nahen Ostens erfährt und deshalb das Gefühl hat, dass er sich wieder annähern muss an die Partner in Europa?
    Akgün: Das ist sicherlich der Fall. Erdogan hat ja die ganze Zeit immer auf die Rolle des neuen Kalifen hin sich vorbereitet. Kalif heißt, dass er weltlicher und geistlicher Führer aller Muslime sein wollte. Aber diese Rolle ist ihm nicht wirklich zugestanden worden. Sie wissen ja, Saudi-Arabien bewegt sich im Moment in eine ganz andere Richtung, Jordanien genauso. Also letztlich versuchen auch die Länder des Nahen Ostens, sich anderweitig zu orientieren, als sich der Türkei unterzuordnen. Und an dieser Stelle hat Erdogan jetzt seine Politik gegenüber den europäischen Ländern geändert.
    Denken Sie nur daran, wie er auch mit Russland in höchsten Konflikten war, also gegen Putin aus allen Rohren geschossen hat und auf einmal war er wieder ein Herz und eine Seele mit Putin. Also, je nachdem, wie die Chancen auf dem globalen Markt sind – um es etwas leger auszudrücken –, agiert Erdogan Richtung Europa oder nicht.
    Rohde: Lassen Sie uns jetzt über die deutsche Seite reden, Sie haben das vorhin schon angesprochen, die deutsche Regierung! Gerhard Schröder wurde ja als Vermittler geschickt zu Erdogan, das ist bekannt geworden, um dafür zu werben, dass die inhaftierten deutschen Staatsbürger freigelassen werden. Inzwischen sind die Übersetzerin Mesale Tolu und zwei weitere frei, der Menschenrechtler Peter Steudtner auch. War das also ein cleverer Schachzug von der Bundesregierung, auf Gerhard Schröder zu setzen?
    Akgün: Unbedingt! Also wenn man Menschen freibekommen möchte, wenn man dieses, sagen wir mal, Zwischenziel erreichen möchte, unbedingt. Gerhard Schröder gehört wahrscheinlich zu den wenigen Deutschen, die einigermaßen Erdogans Vertrauen genießen. Aber ich bin auch der festen Überzeugung, dass er nicht mit leeren Händen gekommen ist, dass durchaus auch andere Versprechen gemacht worden sind, wenn ich an die Zusammenarbeit denke, ich …
    Rohde: Was glauben Sie, was gab es da zum Beispiel?
    Akgün: Ich denke mal, dass man auch durchaus der im Moment schwächelnden Türkei wirtschaftliche Möglichkeiten auch in Aussicht gestellt hat. Und das ist natürlich ein sehr überzeugendes Argument im Moment für die Türkei.
    Rohde: Die Kanzlerin hatte ja im Wahlkampf versprochen, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abgebrochen werden sollen. Unternommen wurde aber bislang nichts in die Richtung, oder?
    Akgün: Die Kanzlerin hat ja auch noch keinen neuen Auftrag als Regierungschefin und sie hat es ja auch für die Zeit in der neuen Regierung versprochen. Aber im Ernst, ich glaube, dass an der Stelle die EU je nachdem, wie die Zusammensetzung in den europäischen Ländern sein wird, entweder die Sache sich selbst überlässt, das heißt, die Verhandlungen mit der Türkei werden sich eh totlaufen, oder eben aktiv wird und die Verhandlungen abbricht. Das hängt auch von den Konstellationen in der EU in den nächsten Monaten ab.
    Rohde: Wovon gehen Sie da aus?
    Akgün: Ich denke mal, je nachdem, wie die Situation sich mit Polen oder mit Ungarn gestaltet, ob die Frage ist, ob die EU andere Baustellen hat, die Frage auch mit Katalonien wird eine Rolle spielen, Großbritannien sowieso.
    Also wenn die EU noch viel mehr Baustellen hat, dann wird der Beitritt der Türkei, der ja eh wirklich in einer Sackgasse liegt, es geht überhaupt nicht voran, nicht so von Interesse sein. Man muss sich nur eins wirklich auch klarmachen: Der Abbruch der Verhandlungen mit der Türkei ist immer ein innenpolitisches Argument, wenn es darum geht, Wahlkampf zu machen. Also dieses Argument wird sehr gern von wahlkampfführenden Politikern eingesetzt: Wenn ich gewählt bin, werde ich mit der Türkei die Verhandlungen abbrechen. Am Ende des Tages, wie gesagt, muss man sie gar nicht abbrechen, sie sind ja schon mehr oder weniger totgelaufen.
    "DITIB hat sich viele Feinde gemacht"
    Rohde: Ein ganz großer Streitpunkt, den die Deutschen ja immer haben mit der Türkei, ist der türkisch-islamische Dachverband ditib. Der wählt morgen, also an Heiligabend einen neuen Vorstand, und wie der "Spiegel" berichtet hat, werden keine türkischen Konsularbeamten mehr zur Wahl stehen. Ist das ein positives Zeichen? Also bedeutet das etwas?
    Akgün: Also ich würde jetzt da keinen Zusammenhang sehen mit dem großen – in Anführungszeichen – Tauwetter, weil ich das Tauwetter auch nicht sehe. Ich glaube, dass DITIB im Moment vorsichtig ist, nachdem ja in den letzten Monaten sehr kalter Wind ihr ins Gesicht gepfiffen hat – spionierende Imame, dann halt irgendwelche anderen Probleme, es wurden ja auch Predigten bekannt, die nun wirklich rassistisch waren, dann die Übergriffe auf Fethullah-Gülen-Anhänger –, also DITIB hat sich viele, viele Feinde gemacht. Da kann ich mir vorstellen, dass sie jetzt versucht, sich so aufzustellen, dass sie im Moment keinen Anlass mehr zu Ärger gibt oder ein bisschen aus der Schusslinie der Politik genommen wird. Denn Erdogan wird auf diese Basis, mit 960 Moschee-Vereinen, über die ganze Republik organisiert, nicht verzichten wollen, weil DITIB genau eigentlich inhaltlich das repräsentiert, was Erdogan in Deutschland oder in Europa sehen möchte, die türkisch-islamische Synthese in seinem Verständnis, oder ich würde sagen: Die türkisch-sunnitische Synthese, und so eben auch die Leute hier für die Politik der Türkei einfängt.
    Deswegen muss sich DITIB immer hier gut stellen mit den Regierungen, muss weiterhin Ansprechpartner bleiben für die Politik, dafür wird sie schon einiges tun wollen.
    Rohde: So die Einschätzung von Lale Akgün, sie war lange Islam-Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion. Danke für dieses Gespräch!
    Akgün: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.