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Lammert für Neuorganisation der Parteien

Bundestagspräsident Norbert Lammert hat angeregt, die Organisationsstrukturen der Parteien nach dem Vorbild von Bürgerinitiativen zu gestalten. Dann könne man sich wechselnder Themen und Interessen schneller annehmen.

Norbert Lammert im Gespräch mit Sabine Adler | 04.07.2010
    Adler: Herr Lammert, Sie haben in dieser Woche über neun Stunden die Bundesversammlung geleitet. Seit der Wahl in Nordrhein-Westfalen ist die Koalition in ausgesprochen schwerem Fahrwasser. Man kann nicht gerade sagen, dass Politik im Moment langweilig ist in Deutschland. Würden Sie sagen, Sie haben einen mindestens ebenso spannenden Job wie Jogi Löw, der Bundestrainer?

    Lammert: Das schwankt sicher auch von Woche zu Woche, und bei einer Weltmeisterschaft oder auch Europameisterschaft folgen ja fast im Tagesrhythmus besonders spannende Ereignisse aufeinander. In der Politik kann das länger dauern, es kann aber manchmal auch noch sehr viel schneller gehen. Wir haben ja gerade in den letzten zwei Jahren mit Blick auf die internationalen Finanzmärkte Taktzahlen erlebt, in denen die Politik handeln musste, die die Spannung mancher Sportereignisse mühelos erreicht, vielleicht überboten haben.

    Adler: Ein Takt ist vorgegeben worden – ziemlich unfreiwilliger Art, nämlich als am 31. Mai Horst Köhler zurückgetreten ist. Das hat nun natürlich auch die ganzen Ereignisse in dieser Woche zur Folge gehabt. Wir haben auch gelernt, dass 44 Abgeordnete der Koalitionsfraktion nicht für ihren eigenen Kandidaten gestimmt haben. Gewusst hat man es von maximal fünf Abgeordneten. Was sagt das eigentlich über die Koalition aus, wenn man so wenig weiß, was die eigenen Parteifreunde vorhaben?

    Lammert: Zunächst mal wissen wir nicht, wie viele Wahlmänner und –frauen den vermuteten – in Anführungszeichen – "eigenen Kandidaten" nicht gewählt haben. Wir kennen ein saldiertes Ergebnis, vielleicht haben noch mehr Wahlfrauen und Wahlmänner aus dem Lager der Union und der FDP Christian Wulff nicht gewählt, aber – was offenkundig nicht in gleicher Weise für wahrscheinlich gehalten wird – andere dafür eben nicht Joachim Gauck. Deswegen: Hier finden auch, wie in der Frage schon deutlich wird, einfach Vorfestlegungen reflexhaft ihren Niederschlag dann in einer, wie mir scheint, voreiligen Interpretation eines Wahlergebnisses, auch wenn ich natürlich gerne einräume, dass das Ergebnis des ersten und des zweiten Wahlganges mich, wie die allermeisten Mitglieder der Bundesversammlung, überrascht hat.

    Adler: Nun war die Interpretation ja in den eigenen Reihen, in Ihren eigenen Reihen ja so ähnlich, wie ich sie gerade gesagt habe, denn das Entsetzen war ja über dieses Wahlergebnis in den Reihen der Koalition so groß.

    Lammert: Man musste zwar damit rechnen, gerade auch wegen des allgemeinen politischen Kontextes, den Sie angesprochen haben, dass die rechnerische Mehrheit im ersten Wahlgang nicht zustande kommen würde. Aber dass ein so großer Teil an rechnerisch erwarteten Stimmen fehlt, das war dann doch auch für mich überraschend.

    Adler: Kann es sein, dass man in der Parteiführung, vielleicht auch in der Regierungskoalition, Anzeichen übersehen hat, Unmut übersehen hat, auf den einfach nicht reagiert wurde?

    Lammert: Natürlich kann das sein, aber ob dafür nun ausgerechnet die Bundesversammlung der richtige Gradmesser ist, daran habe ich Zweifel, zumal mich auch die Virtuosität beeindruckt, mit der ein beachtlicher Teil der Medien nun wochenlang die Wahlmänner und Wahlfrauen auf das freie Mandat hingewiesen hat – gelegentlich mit dem ergänzenden pädagogischen Hinweis, es gehe ja schließlich nicht um die Bundesregierung, sondern schlicht und ergreifend um die Wahl eines neuen Bundespräsidenten, um dann nach stattgefundener Wahl und nach einem Wahlverhalten, das man sich dort erhofft hatte, dies prompt als Misstrauensvotum gegen die Bundesregierung auszulegen.

    Adler: Nun ist es auch in Ihren eigenen Reihen so gewertet worden, dass man jetzt doch mal nach einem solchen Ergebnis auf die Motivsuche gehen müsste. Wie wichtig ist es, dass sich die Parteien der Koalition jetzt tatsächlich mit den Motiven für dieses mutmaßliche Abstimmungsverhalten beschäftigen?

    Lammert: Noch mal: Es gibt dringenden Bedarf, über die Ausrichtung und die Vermittlung der Politik nachzudenken und Korrekturen vorzunehmen. Den Kausalzusammenhang zur Bundesversammlung sehe ich nicht und akzeptiere ich auch nicht. Auch wenn die Bundesversammlung im ersten Wahlgang zu dem aus der Sicht der Koalition erwünschten Ergebnis geführt hätte, hätten Sie mich doch vermutlich dennoch gefragt, ob nicht unbeschadet dieses glatten Verlaufs der Bundesversammlung Bedarf für eine kritische Überprüfung der Aufführung dieser Koalition bestünde.

    Adler: Da haben Sie absolut recht.

    Lammert: Sehen Sie, und ich hätte Ihnen diese Frage auch prompt bestätigt.

    Adler: So ist es, das ist ja unbestritten. Ich würde trotzdem noch mal gerne bei dem Wahltag bleiben. Wenn 44 Abweichler da waren, dann liegt natürlich die Frage nahe: Wer war das jetzt eigentlich? Wie sinnvoll ist so etwas?

    Lammert: Es ist nicht sinnvoll, und zwar gleich im doppelten Sinne nicht. Erstens ist die Frage aussichtslos. Meine Lebenserfahrung sagt mir, man sollte die begrenzte Energie, über die man verfügt, nicht ausgerechnet den Fragen vorrangig widmen, die nicht mit Erfolgsaussichten gelöst werden können. Und zweitens: Die notwendigerweise spekulative Beschäftigung mit dieser Frage erzeugt absehbar ein solches Maß an zusätzlichem Misstrauen und wechselseitigen Verdächtigungen, dass es nicht nur der notwendigen Besinnung auf die vorrangigen Aufgaben klimatisch im Wege steht, es kostet auch wieder zusätzliche Zeit, die wir für die Behandlung der Sachthemen in Anspruch nehmen müssen.

    Adler: Wenn Sie sagen, da könnte ein Klima des Misstrauens entstehen: Was herrscht denn für ein Klima in der Fraktion, in der Partei, wenn offensichtlich einige Parteimitglieder nicht wagen, den Mund aufzumachen – offen zum Beispiel gegen den Kandidaten Wulff etwas zu sagen oder gegen die Art, wie regiert wird –, sondern das über solche Denkzettelabstimmungen machen. Was sagt das über das Klima in der Partei aus?
    Lammert: Auch da ist mir die Beobachtung ein bisschen zu kurz gesprungen. Es gehört ja nicht zu den offensichtlichen Nachteilen einer funktionierenden Demokratie, dass auch und gerade für Spitzenämter höchst unterschiedliche Vorstellungen über die dafür bestgeeigneten Kandidaten bestehen – und das im Übrigen nicht nur zwischen den Parteien und den Parteien auf der einen Seite und der Öffentlichkeit, einschließlich der Medien, auf der anderen Seite, sondern auch innerhalb der Parteien selbst. Würden nun diese unterschiedlichen Auffassungen, ob es statt X nicht noch besser Y sein könnte, würden die vor einem solchen Wahltag sicher zum Entzücken von Deutschlands Journalisten täglich öffentlich spazieren geführt, würde dies natürlich nicht als Nachweis der Aufgeschlossenheit und schon gar nicht Geschlossenheit einer solchen Partei gewertet, sondern als der offenkundliche Nachweis vermeintlich unüberbrückbarer Differenzen, dass die sich nicht einmal auf einen gemeinsamen Kandidaten verständigen können. Das heißt, das ist auch eine typische Situation, in der man alle denkbaren Erwartungen nie gleichzeitig erfüllen kann. Und in welchem Umfang dann diejenigen, die sich am Ende anders entschieden haben als für den von der eigenen Parteiführung vorgeschlagenen Kandidaten, damit Zweifel am Kandidaten oder ganz andere Vorbehalte zum Ausdruck bringen wollten, das ist wieder genau das Feld der Spekulationen, die nicht viel weiter helfen.

    Adler: In seiner Antrittsrede hat Christian Wulff, der Bundespräsident, auch mahnende Worte in Richtung – ich vermute – der Koalitionen geschickt, als er sagte, viel zu viele Entscheidungen werden in viel zu kleinen Zirkeln getroffen. Wenn Sie sagen, das hätte Deutschlands Journalisten entzückt, da haben Sie zweifellos recht. Das ist völlig klar, dass natürlich die Presse diese Diskussion über einen Kandidaten mit Interesse verfolgt hätte. Aber vermutlich hätten es eben auch Parteimitglieder beziehungsweise auch Bürger mit Interesse verfolgt, wie man sich einigt und warum man sich auf einen bestimmten Kandidaten einigt – jedenfalls mit mehr Interesse, als wenn man einen vorgefertigten Namen hingelegt bekommt und den dann schlucken muss.

    Lammert: Meine Wahrnehmung ist, dass wir trotz, vielleicht sogar wegen der Kurzfristigkeit der entstandenen Entscheidungsnotwendigkeiten eine selten lebhafte, auch selten aufschlussreiche, mit hohem öffentlichen Engagement vieler Leute verbundene Diskussion erlebt haben, die ich im Ganzen für eine der erfreulicheren Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit halte.

    Adler: Ich vermute, Sie spielen auch darauf an, dass eine geradezu begeisterte Bewegung entstanden ist zur Unterstützung von Joachim Gauck. Müssen eigentlich die Parteistrategen jetzt Nachhilfestunden nehmen bei denjenigen, die das initiiert haben?

    Lammert: Nein, schon deswegen nicht, weil dies ja keineswegs ein Einfall der Bürgergesellschaft war, mit dem die Parteien überrascht worden wären und denen sie am Ende hilflos gegenüber gestanden hätten. Das war im Gegenteil nachweislich ein zugegebenermaßen besonders cleverer Vorschlag von zwei Parteien, die in Kenntnis des Umstandes, dass sie über eine rechnerische Mehrheit in der Bundesversammlung ganz sicher nicht verfügen, sich um einen besonders interessanten, spannenden, attraktiven Kandidaten bemüht haben.

    Adler: Und dann kam aus der Bürgerbewegung zusätzlich Hilfe per Internet, per Facebook und so weiter, das war das, worauf ich abzielte: Müssen sich die Parteistrategen vielleicht auch noch mal zusammensetzen und genau hingucken, wie wunderbar man solche Mittel einsetzen kann, um Begeisterung aufzunehmen und zu entwickeln?

    Lammert: Also bei mir zumindest rennen Sie da offene Türen ein. Ich habe mich schon zu Studienzeiten mit der Frage beschäftigt, ob die politischen Parteien, so wie sie verfasst sind, eigentlich Organisationsstrukturen haben, mit denen sie den politischen Nerv der Bevölkerung treffen können. Und schon vor inzwischen ja mehr als 30, 35 Jahren habe ich Zweifel an genau dieser Arbeitsweise der politischen Parteien angemeldet. Das hängt vor allen Dingen damit zusammen, dass wir in modernen Gesellschaften einen raschen Wechsel von Interessen und Themen haben, den man mit dem – ich nenne das jetzt mal so – Prinzip Bürgerinitiative viel schneller und insofern auch Erfolg versprechender zu Leibe rücken kann, als mit dem Prinzip von Territorialorganisation, wo die Parteien das Land mit Hunderten oder Tausenden Ortsvereinen überziehen mit der gut gemeinten, aber nicht wirklichkeitsnahen Annahme, man fände ganz viele Menschen, die sich ein für alle Mal und immer für Politik interessieren und unter Politik alles und jedes verstehen.

    Adler: Das heißt, eine Organisation auf Themen bezogen und nicht unbedingt regional. Herr Lammert, ich möchte gerne noch mal auf das Abstimmungsverhalten zurückkommen. Was bedeutet das für die nächsten Bundestagssitzungen: Jetzt haben wir in der nächsten Woche noch mal eine Sitzungswoche, dann gibt es die Sommerpause und dann kommt die Verabschiedung des Haushalts. Muss die Koalition jetzt eigentlich zittern bei dieser Verabschiedung, dass sie die Mehrheit wieder nicht zustande kriegt?

    Lammert: Ich habe überhaupt keinen Anlass für die Vermutung, die sich aus dieser Rollenverteilung ergebenden "Probleme" – in Anführungszeichen – der Regierung würden nun größer. Wir befinden uns nicht nur nicht in der Situation, dass wir wachsende verfügbare Steuereinnahmen für diese und jene zusätzliche Segnung verteilen können, sondern wir werden in einer unangenehmen und ganz sicher unpopulären Weise eine Reihe von öffentlichen Ausgaben zurückführen müssen. Und das ist für die Regierung wie für das Parlament ein ebenso unvermeidbarer wie schwieriger Entscheidungsprozess.

    Adler: Nun hat die Regierungskoalition erlebt - in der erweiterten Formation der Bundesversammlung -, dass sie zweimal die Mehrheiten nicht zustande bekommen hat, obwohl sie sehr üppig sind. Nun ist der Haushalt, die Debatte, eine sehr wichtige, immer auch eine ganz entscheidende Debatte. Da bietet es sich ja auch noch einmal an, einen solchen Denkzettel zu verpassen. Rechnen Sie damit?

    Lammert: Nein, zumal ich vom Verpassen von Denkzetteln nicht viel halte, denn das sind ja symbolische Handlungen, die nicht Sachverhalte verändern. Und worauf es – jedenfalls nach meinen Ansprüchen als Parlamentarier – bei Haushaltsberatungen ankommt, ist, sich auf der Basis der Vorschläge der Regierung in Ruhe die Treffergenauigkeit, auch die Ausgewogenheit dieser Vorschläge anzusehen und da, wo man mit guten Gründen Einwände gegen Vorschläge hat, gegebenenfalls auch eine Korrektur vorzunehmen. Das ist das Königsrecht des Parlaments gegenüber der Regierung. Und davon muss es auch Gebrauch machen, ohne dass daraus dann gleich wieder Koalitionskrisen hergeleitet werden dürfen.

    Adler: Diese Mahnung haben wir jetzt schon so oft gehört. Gezählt habe ich sie nicht, aber acht Monate lang hören wir sie schon. Also, diese Mahnung der Geschlossenheit und in Sachfragen zu diskutieren. Allein: Es nützt wenig. Wäre es angebracht, dass die Kanzlerin zum Beispiel die Abstimmung über den Haushalt mit einer Vertrauensfrage verbindet?

    Lammert: Nein. Die Vertrauensfrage ist ein Instrument unserer Verfassung, das überhaupt nur dann angemessen und gelegentlich vielleicht auch unverzichtbar ist, wenn es begründete Zweifel an der Mehrheitsfähigkeit der Regierung beziehungsweise der Mehrheitsfähigkeit einer für die Regierung zentralen politischen Frage geht. Das darf man nicht inflationieren. Und im Übrigen kommt der besondere Rang von Haushaltsberatungen ja auch darin zum Ausdruck, dass beispielsweise über den Etat des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin regelmäßig bei uns mit namentlicher Abstimmung befunden wird. Das heißt, würde es in einer namentlichen Abstimmung für den Etat des Kanzleramtes keine Mehrheit geben, wäre das ein faktisches Misstrauensvotum.

    Adler: Nun haben Sie den Ausdruck 'inflationärer Gebrauch der Vertrauensfrage' gebraucht. Von inflationär kann bei Frau Merkel ja nun überhaupt keine Rede sein. Ganz anders als in der rot-grünen Bundesregierung hat sie die Vertrauensfrage noch nie gestellt. Andererseits hat sie zweimal erleben müssen bei sehr üppigen Mehrheiten, dass die Mehrheiten nicht zustande gekommen sind. Das könnte ein Anlass für eine Vertrauensfrage sein.

    Lammert: Bei welcher Entscheidung im Bundestag hat sie denn, bitte schön, keine Mehrheit gehabt?

    Adler: Im Bundestag nicht, in der Bundesversammlung.

    Lammert: Eben. Wir reden aber jetzt über die Frage, ob es im Bundestag eine Mehrheit gibt. Die nächste Bundesversammlung wird hoffentlich und voraussichtlich in fünf Jahren stattfinden. Das ist die nächste Legislaturperiode. Da haben wir zwischendurch noch mal Bundestagswahlen.

    Adler: Nun hoffen Sie, dass der neue Bundespräsident uns so lange erhalten bleibt. Wie sehr kann der Bundespräsident hoffen, dass dann auch die Regierung so stabil bleibt, dass ihm nicht noch mal das widerfährt, was Horst Köhler zu Anfang seiner Regierungsarbeit 2005 erlebt hat?

    Lammert: Also, ich habe dem neuen Bundespräsidenten, den ich ja aus vielen Jahren einer sehr engen, auch sehr freundschaftlichen Zusammenarbeit besonders gut kenne, gestern Abend dezent darauf hingewiesen, dass schon für die Durchführung dieser Bundesversammlung die dafür erforderlichen Mittel im Haushalt gar nicht vorgesehen waren und ich mich außerstande sähe, in absehbarer Zeit eine weitere Bundesversammlung einzuberufen. Das hat er offenkundig sofort verstanden und feierlich versichert, er wolle die fünf Jahre, für die er nun gewählt ist, dieses Amt auch ebenso tapfer wie überzeugend wahrnehmen.

    Adler: Das ist das, was Christian Wulff als neuer Bundespräsident für sich entscheiden kann und entscheiden wird, aber er kann nicht entscheiden, ob die Regierung nicht möglicherweise doch vorzeitig auseinanderbricht. Noch mal die Frage: Wie stabil, glauben Sie, ist diese Regierung, dass der Bundespräsident das Parlament nicht vorzeitig auflösen muss?

    Lammert: Der Bundespräsident kann ja gar nicht gewissermaßen in eigener Zuständigkeit den Bundestag auflösen, sondern das wäre nur als Folge einer Situation denkbar, in der nicht nur die vorhandene Koalition ihre Handlungsfähigkeit, sprich ihre Mehrheit, verlöre, sondern gleichzeitig sich auch keine Mehrheit für die Wahl eines neuen Bundeskanzlers finden würde. Weder das eine noch das andere halte ich für eine realistische Betrachtungsweise. Ich habe im Übrigen auch keinen Zweifel daran, dass sich alle Beteiligten, und damit meine ich hier insbesondere die Partei- und Fraktionsführungen der Koalition, über die Lage und die Wahrnehmung der politischen Lage durch die Wählerinnen und Wähler voll im Klaren sind. Und ich habe im Übrigen auch schon vor der Bundesversammlung niemanden getroffen, der die ersten Monate dieser Koalition für ein glanzvolles Stück deutscher Politik gehalten hätte.

    Adler: Herr Lammert, das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Die nächste Frage, die ich Ihnen dringend stellen muss: Sind die eigenen Abgeordneten gefährlicher als der politische Gegner?

    Lammert: Abgeordnete sind überhaupt nicht gefährlich.

    Adler: Sie sind im ersten Viertel der Regierungszeit, drei Viertel stehen noch an. Wie soll die Regierungskoalition diese Zeit überstehen, jedenfalls, wenn sie so weiter verfasst bleibt, wie sie verfasst ist?

    Lammert: Ich muss mich wiederholen, was ich gesagt habe. Es gibt eine besondere Bewährungsprobe und gleichzeitig auch ein besonders geeignetes Feld für den Nachweis des eigenen Problembewusstseins und der eigenen Handlungsfähigkeit im Zusammenhang mit der Beratung des Haushalts. Da wird nun gerade in den nächsten Tagen ja der Haushaltsentwurf im Kabinett beraten und dann dem Parlament zugestellt. Und wir werden dann sicher interessante Sitzungswochen nach der Sommerpause erleben, wo die Regierung ihre Überzeugungskraft gegenüber dem Parlament nachweisen muss und das Parlament hoffentlich selbstbewusst genug ist, da, wo einzelne Absichten oder Vorschläge nicht hinreichend gelungen oder plausibel erscheinen, auch mit der eigenen Zuständigkeit gegebenenfalls korrigierende Akzente zu setzen.

    Adler: Sie sind ein bekannter CDU-Politiker, auch in Nordrhein-Westfalen. Dort geht es im Moment mindestens so turbulent zu wie in Berlin. Wer wird Herrn Rüttgers folgen, der als Ministerpräsident zurückgetreten ist?

    Lammert: Also, im Amt des Ministerpräsidenten voraussichtlich Frau Kraft, jedenfalls nach den heute erkennbaren Absichten von SPD und Grünen und einer ja doch zunehmend erkennbaren mindestens Tolerierung durch die Linke im nordrhein-westfälischen Landtag. Was die weitere Entwicklung innerhalb der nordrhein-westfälischen CDU angeht, habe ich selber mit Erfolg dafür geworben, dass jetzt nicht wieder in einem etwas voreiligen Reflex schnelle Personalveränderungen an die Stelle der gründlichen Aufarbeitung einer spektakulären Wahlniederlage treten. Und so schön und auf den ersten Blick überzeugend es auch ist, wenn man dann mit einer oder wenigen Personen dieses Ereignis verbinden kann, so wenig hilft es wirklich weiter, wenn man dann innerhalb weniger Tage sich in Personalveränderungen flüchtet, ohne sich mit den Sachverhalten wirklich auseinandergesetzt zu haben. Deswegen bin ich Jürgen Rüttgers außerordentlich dankbar, dass er bereit ist, sein Mandat als Landesvorsitzender zu Ende zu führen mit der ausdrücklichen Ankündigung, danach nicht weiter zur Verfügung stehen zu wollen. Das gibt allen möglichen Nachfolgern nun die nötige Zeit, sich an der unvermeidbaren Aufarbeitung der Ereignisse persönlich zu beteiligen und auch gegenüber der eigenen Partei den Nachweis der Eignung für dieses oder jenes Amt anzutreten.

    Adler: Etwas Zeit bleibt noch bis zum CDU-Parteitag im November in Karlsruhe. Dann müssen drei neue Stellvertreter für die Parteivorsitzende gefunden werden, gewählt werden. Wer empfiehlt sich Ihrer Meinung nach dafür?

    Lammert: Sie werden von mir jetzt nicht ernsthaft erwarten, dass ich Namen vorschlage. Aber ich werde auch in den Gremien der Partei dafür werben, dass wir bei dieser ungewöhnlichen, ja auch nicht absehbaren größeren Anzahl von neuen Leuten in der Parteispitze nicht nur den wichtigen Aspekt der innerparteilichen Kräfteverhältnisse im Auge haben, sondern den mindestens so wichtigen Gesichtspunkt, dass wir mit Namen auch unser Politikangebot für die Wählerinnen und Wähler verdeutlichen müssen.

    Adler: Sie haben am Freitag Horst Köhler gewürdigt. Sie haben am Mittwoch bei der Eröffnung der Bundesversammlung aber auch gesagt, niemand steht unter Denkmalschutz. Wie berechtigt war die Kritik Horst Köhlers, dem Ex-Bundespräsidenten nunmehr, an den Medien?

    Lammert: Ich kann die Verletzung, die Horst Köhler ganz offenkundig durch eine Reihe der letzten Presseberichte über ihn empfunden hat, nicht nur gut nachfühlen, ich finde sie auch berechtigt. Bei aller Aufgeschlossenheit für kritische Begleitung durch die Medien, und ich habe mich dazu ja auch vor und nach den entsprechenden Ereignissen entsprechend geäußert, es gibt eine Form des Umgangs mit Menschen – das gilt übrigens nicht nur für Politiker, aber es gilt eben auch und gerade für Politiker - wo die Häme die Auseinandersetzung mit den Sachverhalten mindestens überbietet, gelegentlich auch ersetzt. Natürlich, und ich wiederhole, was ich gesagt habe, steht auch ein Staatsoberhaupt bei uns nicht unter Denkmalschutz. Und wenn es sich in Interviews zu wichtigen Themen äußert, dann sind diese Äußerungen natürlich auch Gegenstand kritischer Begleitung und Kommentierung. Aber muss man wirklich einem Staatsoberhaupt, übrigens schon gar dann, wenn eine vielleicht missverständliche Formulierung längst klargestellt worden ist, muss man einem amtierenden Staatsoberhaupt unterstellen, dass es eine politische Position gegen die glasklaren Regelungen unserer Verfassung und gegen die gesetzlichen Beschlüsse über Militäreinsätze deutscher Soldaten im Ausland tatsächlich beziehen wolle? Also, ich finde schon, da sind gelegentlich Grenzen überschritten worden, die ich nicht für rechtlich bedeutsam halte, aber die ein bisschen mehr sind als Stilfragen.

    Adler: Sie sind in der Nachfolgediskussion auch als Kandidat gehandelt worden, zählten zu den vier Personen, die in der engeren Auswahl gewesen sein sollen. Sind Sie nach all dem, wie der Wahlkampf gelaufen ist, froh, dass Sie nicht der Auserkorene geworden sind?

    Lammert: Ich bin außerordentlich zufrieden, dass ich das Amt, das ich nun seit einigen Jahren wahrnehmen darf, auch weiter ausüben kann. Ich glaube auch, dass ich hier eine ordentliche Besetzung bin. Und ich fühle mich persönlich auch, offen gestanden, in diesem Amt sehr viel wohler als das für das andere, auch das gerade von Ihnen angesprochene, gelten würde.