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Lammert plädiert für neue Leitkultur-Debatte

Der neue Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat seinen Vorstoß für eine Debatte um eine deutsche Leitkultur verteidigt. Dass jede Gesellschaft ein Mindestmaß an gemeinsamen Überzeugungen und Orientierungen brauche, ohne die Regeln und Gesetze auf Dauer nicht funktionierten, gehöre zu den Binsenweisheiten, sagte Lammert.

Moderation: Rainer Berthold Schossig | 20.10.2005
    Rainer B. Schossig: In der Union rumort es zur Zeit, nicht nur personell, auch thematisch. Interessanterweise mehren sich jetzt die Stimmen, die für eine Wiederbelebung der Patriotismusdebatte plädieren. Der soeben gewählte Bundestagspräsident Norbert Lammert hat sich gestern für eine neue Diskussion über eine deutsche Leitkultur ausgesprochen. Kein politisches System könne seine innere Legitimation ohne solche gemeinsam getragenen Überzeugungen aufrecht erhalten, sagt er. Und sogar der Vorsitzende der Jungen Union Mißfelder hält es für sinnvoll, die Patriotismusdiskussion wieder neu aufzunehmen, innerhalb der Union sei dies überfällig. Das Leitkulturthema war von dem damaligen Unionsfraktionschef Friedrich Merz angestoßen worden, der hatte in der Debatte über Zuwanderung damals gefordert, dass sich Ausländer einer deutschen Kultur anpassen müssten. Frage an Norbert Lammert, seit zwei Tagen neuer Bundestagspräsident in Berlin, zunächst: Wie würden Sie die Leitkultur definieren im Sinne allgemein pragmatisch akzeptierter Grundorientierungen und Überzeugungen oder mehr im ethisch-moralischen Sinn?

    Norbert Lammert: Ich weiß gar nicht, ob sich das wechselseitig ausschließen muss. Zu den Auffälligkeiten gehört ja, dass diese Debatte sehr schnell an der mangelnden Einigungsfähigkeit über den Begriff gescheitert, jedenfalls zu Ende gegangen ist und dass die Frage, ob über das, worum es in der Sache geht, nicht ein beachtliches Maß an Übereinstimmung vorhanden oder jedenfalls zu erzielen ist, gar nicht mehr weiter nachgedacht worden ist. Dass jedenfalls jede Gesellschaft ein Mindestbestand an gemeinsamen Überzeugungen und Orientierungen braucht, ohne die auch ihre Regeln und ihre gesetzlichen Rahmenbedingungen auf Dauer gar nicht funktionieren können, gehört eigentlich zu den Binsenweisheiten, zu denen der Streit kaum lohnt.

    Schossig: Soll sie denn dann eher von Fremden abgrenzen oder die Gemeinde zusammenhalten? Also wie viel Identifikation, könnte man auch fragen, ist nötig, wie viel Authentizität einer Gesellschaft möglich, dass sie funktioniert?

    Lammert: Also der langjährige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf hat in diesem Zusammenhang mal - wie ich finde: klug - bemerkt: Gerade wenn Deutschland multikulturell sein und dennoch seine Identität nicht verlieren soll, braucht es gerade wegen dieser verschiedenen kulturellen Ausprägungen einen roten Faden, eben eine Leitkultur.

    Schossig: Wer soll diese Identifikationsvorgaben denn nun formulieren, wer soll sie kontrollieren, wer soll sie umsetzen? Sie haben gesagt, der Bundestag könne sie allenfalls diskutieren. Wie sollte denn die Exekutive mit Leitkultur umgehen?

    Lammert: Ich finde schon die Selbstverständlichkeit überraschend, mit der Sie die von mir für notwendig gehaltene Debatte über dieses Thema an staatlichen Institutionen und möglicherweise exklusiv an staatlichen Institutionen festmachen wollen. Ich halte es für erforderlich, dass es in einer Gesellschaft solche Verständigungsprozesse gibt und wenn man das für erforderlich hält und diese Forderung gewissermaßen damit an viele benannte und unbenannte Adressaten richtet, dann muss man sie zunächst mal auch für sich selbst gelten lassen. Also wünsche ich mir ausdrücklich, dass sich daran Parlamente, Regierungen beteiligen, dass sich insbesondere viele Persönlichkeiten daran beteiligen an einer solchen Diskussion, aber ich reklamiere ausdrücklich keinen Monopolanspruch für diese Debatte und schon gar nicht für die von Ihnen angefragten Vorlagen oder Kontrollen für irgendeine dieser Institutionen.

    Schossig: Dann könnte es ja auch dann leicht wohl in eine falsche Richtung gehen, dann wären wir wieder bald so bei etwas obrigkeitlich-schwammigem wie der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

    Lammert: Die im Übrigen diesem Land ja offenkundig bis heute gut bekommen ist. Wobei, ich finde übrigens diesen Vergleich außerordentlich aufschlussreich. Auch an der Stelle ist eine geradezu reflexartige Ablehnung mindestens Skepsis gegenüber dem Begriff, es hat ja mal Zeiten gegeben, in denen er ein besonders beliebter Gegenstand persiflierender Zitierung war und alle würden sich in diesem Land bekreuzigen, wenn es genau diese freiheitlich-demokratische Grundordnung mit genau der Selbstverständlichkeit nicht mehr gäbe, wie sie da gelegentlich in Zweifel gezogen wurde.

    Schossig: Aber inwieweit kann überhaupt eine Leitkultur leisten, wofür ja eigentlich religiöse oder sehr viel tiefer gehende Glutkerne der Gesellschaft notwendig wären, Leitlinien, Rückbindungen, Grundlegungen?

    Lammert: Wenn das eine mit dem anderen nichts zu tun hätte, wäre das überhaupt nicht zu leisten. Aber die Vorstellung ist ja skurril, es könne so etwas wie eine insgesamt als allgemeinverbindlich akzeptierte kulturelle Orientierung in diesem Lande geben wie in anderen übrigens ganz selbstverständlich auch, wenn dazu nicht die von Ihnen angesprochenen religiösen Überzeugungen und Traditionen einen wesentlichen Beitrag leisteten.

    Schossig: Nun haben wir eine Kultur der Leitlinien und der politischen Leitkultur, aber wir haben noch keinen Kulturstaatsminister.

    Lammert: Was ja weder die Beteiligung anderer an einer solchen Diskussion ausschließt, noch besteht ja die Sorge dass eine Diskussion, die offenkundig monatelang für unnötig gehalten wurde, nun daran scheitert, dass wir noch 14 Tage warten müssen, bis dieses Amt auch besetzt ist.