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Lampedusa
Von der Boje zum Stacheldrahtverhau

Lampedusa - wie kein anderer Ort steht die Mittelmeerinsel für ein Europa, das sich abschottet gegen Flüchtlinge aus dem Süden. Ulrich Ladurner zeichnet die spannende und wechselhafte Geschichte der Insel in seinem neuen Buch nach.

Von Florian Felix Weyh | 10.04.2014
    Flüchtlinge auf Lampedusa sind im März 2011 in provisorischen Zelten untergebracht
    Flüchtlinge auf Lampedusa (picture alliance / dpa / Vincenzo Tersigni)
    Vielleicht wird 2014 in die Geschichte dieses Jahrhunderts als jenes Jahr eingehen, in dem die Geopolitik zurückkehrte. Geopolitik - da denkt man in gewaltigen Dimensionen. Denkt man. Landgier und Großmachtstreben verleiben sich Hunderttausende von Quadratkilometern ein und haben dann immer noch nicht genug. Schließlich gibt es da auch noch die kleinen Häppchen, ein Eiland von der Größe Norderneys zum Beispiel:
    "Man könnte auf der Insel Munitionslager anlegen, die man vom Schwarzen Meer importieren könnte, sodass man die Munitionen nicht mehr in Italien kaufen müsste, wo sie besonders in Kriegszeiten exorbitant teuer sind. [...] Schließlich ist das hier die bestmögliche Position, um ein Lager für russische Produkte anzulegen, die über das Schwarze Meer exportiert werden, sowie für die Waren, die man auf dem Rückweg dorthin transportieren wird."
    Der dies gegen Ende des 18. Jahrhunderts notierte, war ein großer Geostratege - und unverkennbar ein Russe. Sein Name: Grigori Alexandrowitsch Potjomkin. Für seine Zarin und Geliebte Katharina II. entriss er dem Osmanischen Reich die Krim und bewegte die Zarin dazu, ihre Ostseeflotte ins Mittelmeer zu schicken, um den Sultan auch von Süden her zu besiegen. Das gelang, und einige Jahre lang kontrollierten die Russen die östliche Ägäis, woran sich heute niemand mehr erinnert. Was Russland fehlte, war allerdings ein Stützpunkt, eine Insel.
    "Der Wert von Inseln liegt nämlich darin, dass sie sich nicht bewegen und daher eine Anlaufstelle für alle sind, die übers Meer fahren."
    Beim Blick auf die Seekarten stieß Potjomkin auf einen 22 Quadratkilometer großen Flecken vor der Küste Afrikas. Sein Name variierte wie der Zungenschlag der darauf gestrandeten Seeleute:
    "Lopadusa, Lapadusa, Lopedosa, Lipadusa, Lipidusa, Lampadosa, Lampidosa, Lanbedusa."
    Eine klaffende Wunde
    Wir nennen diese Insel heute Lampedusa, und sie ist eine klaffende Wunde in unserem europäischen Selbstverständnis von Freiheit, Liberalität und Menschenwürde. Denn dort, in Lampedusa, werden Leichen angeschwemmt, werden afrikanische Flüchtlinge interniert, wird ein Abwehrkampf an der Zivilisationsbruchstelle zwischen Erster und Dritter Welt geführt.
    "Lampedusa ist kein Grenzposten, es ist ein Spiegel Europas", schreibt Ulrich Ladurner in seiner "großen Geschichte einer kleinen Insel", und in der Tat ist dieses Eiland immer wieder mit großer Geschichte verknüpft gewesen. Hätte Fürst Potjomkin seinen geopolitischen Schachzug verwirklicht, statt 1791 an Malaria zu versterben, sähe die europäische Landkarte vielleicht ganz anders aus. Tatsächlich gehört Lampedusa seit 1843 dem italienischen Staat - damals noch dem Königreich Neapel -, nachdem es vorher über 400 Jahre lang im Privatbesitz einer Aristokratenfamilie gewesen war. Diese wusste mit der Insel zwar nichts anzufangen, wählte aber immerhin ihren Namen danach: Tomasi di Lampedusa. Deren berühmtester Sprössling, Giuseppe Tomasi di Lampedusa, schrieb im Leben einen einzigen Roman, "Der Leopard", und der brachte ihm Weltruhm ein. Lange Zeit war Lampedusa also mehr mit Literatur verknüpft als mit den Abendnachrichten, zumal Shakespeares Altersdrama "Der Sturm" sich nach Ansicht von Literaturhistorikern ebenfalls auf der damals unbewohnten Insel abspielte. Ein Robinson-Ort und trotz des Mangels an eigenen Süßwasserquellen eine Art Paradies ... bis 1843 die Insel zwangskolonialisiert wurde.
    "Es wuchsen Olivenbäume, Johannisbrotbäume, Mastixbäume, Zypressen, Wacholder, Kapern. Die Wälder waren von Wildschweinen, Hirschen, Hasen, Füchsen und zahllosen anderen Tieren bevölkert. Die Siedler gingen daran, die Wälder zu roden. Sie taten es so gründlich, dass nicht einmal zehn Jahre nach ihrer Ankunft fast nichts mehr davon übrig geblieben war. Schuld daran war das lohnende Geschäft mit der Holzkohle. Die Behörden versuchten vergeblich, es zu unterbinden. Der nach Lampedusa entsandte Inspektor Schiró erkannte das Übel schon sehr früh: "Man muss bedenken, dass die Siedler nicht nur die Zweige zu Holzkohle verarbeiten, sondern eben auch die Stämme, den Stumpf und sogar die Wurzeln, die sie aus der Erde reißen [...] Man muss schon den Gedanken an die Herstellung von Holzkohle vollständig austreiben, so man nicht will, dass die Kolonisierung aus Mangel an Brennholz scheitern wird, da die beiden Dinge, Holzkohle und Kolonie, nicht zusammen bestehen können."
    Wie eine Boje im Meer
    Dieses frühe Menetekel zeigt, dass Lampedusa den Menschen nur erträgt, wenn er sich auch erträglich verhält. 22 Quadratkilometer können Leben retten, aber nicht die Lebensgrundlage für Abertausende bilden.
    "Wir sind so etwas wie eine Boje im Meer", erklärt Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin Lampedusas, dem neugierigen Reporter aus dem Norden Europas.
    "Wenn Menschen zu uns kommen, dann sollen sie sich hier versorgen und ausruhen können, bevor sie weiterziehen. Aber Grenze, nein, das sind wir nicht. Das können wir nicht sein. Das waren wir nie."
    Um exakt diesen Zwiespalt, nämlich die Umdefinition einer Boje zum Stacheldrahtverhau, geht es in Ulrich Ladurners exzellenter literarischer Reportage "Lampedusa". Das Genre ist eigentlich ausgestorben, zu lang für Zeitungen und Zeitschriften, zugleich zu unspektakulär für den Sachbuchmarkt. Wenn darüber hinaus die Inspektion vor Ort wenig Aufregendes zutage fördert - das zeitgenössische Lampedusa ähnelt in seiner steinernen, von Hotelschwarzbauten gezeichneten Ödnis vielen touristischen Nicht-Orten - dann ist Erzählkunst gefragt. Mühelos verbindet der Autor historische Exkursionen mit heutigen Problemen, lässt große Geopolitik auf scheinbar kleine Handlungsfragen stoßen, die dann doch die ganz große Frage Europas aufwerfen: Wie hältst du es mit den Idealen der Aufklärung? Denn wenn die Lampedusaner einem einfachen menschlichen Impuls folgen und Schiffbrüchige vor dem Ertrinken retten - übrigens ein Grundgebot aller Seefahrt - dann machen sie sich nach italienischem Recht der "Beihilfe zur illegalen Immigration" schuldig. Das ist ein Vermächtnis von Berlusconi, der Humanität kriminalisierte, während er die eigene Kriminalität bagatellisierte. Zu Recht bezeichnet Ladurner den "Widerspruch zwischen der Zügellosigkeit Berlusconis und der Gnadenlosigkeit seiner Einwanderungspolitik" als "bizarr". Doch obwohl er angesichts der Verhältnisse in einen J'accuse-Tonfall hinübergleiten könnte, bleibt er unaufgeregt. Das hat durchaus Eigensinn, denn so kann er Werturteile beim Leser entstehen lassen, ohne ihm diese zu diktieren. Als Einheimische erzählen, dass die noch nutzbaren Flüchtlingsboote sofort von den italienischen Behörden unbrauchbar gemacht werden, überliefert uns Ulrich Ladurner diese Geschichte als Beispiel für die ganze moralische Dysfunktionalität der EU-Politik. Zunächst werden die Bootsgerippe zur Müllentsorgung europaweit ausgeschrieben, dann von einem Spezialschiff geschreddert und müssen schließlich wegen des giftigen afrikanischen Farbanstrichs in Deutschland als Sondermüll verbrannt werden. Wahr oder nicht wahr - das Naheliegende, die Boote von den Insulanern oder den Immigranten weiter benutzen zu lassen, findet tatsächlich nicht statt, eben weil es naheliegend ist. Es könnte ja sonst jemand auf die Idee kommen, anderes naheliegendes Tun zu propagieren wie die Rettung von Ertrinkenden. Und wäre die Entsorgungsgeschichte wahr, verbände sie uns Deutsche zumindest in Spuren mit den Katastrophen vor Lampedusa.
    "Lampedusa ist [...] das Versprechen auf Rettung und Erlösung. Doch Lampedusa kann es nicht halten. Denn die Insel ist abhängig, klein und schwach. Sie ist überfordert."
    Wir sind es nicht.
    Ulrich Ladurner: "Lampedusa. Große Geschichte einer kleinen Insel"
    Residenz Verlag, 144 Seiten, 19,90 Euro