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Landkreis Vorpommern-Rügen
Niedriges Einkommen trotz Tourismus-Boom

Nirgends gibt es so viel Ostseesandstrand wie im Landkreis Vorpommern-Rügen und somit auch hohe Touristenzahlen. Doch der fünftgrößte deutsche Landkreis gilt als "stark unterdurchschnittlich" entwickelt. Die Gemeinden haben es schwer, ihre Einwohner zu halten - eine Abwärtsspirale droht.

Von Silke Hasselmann | 14.09.2017
    Ein Strand auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst
    Auch in diesem verregneten Sommer gehörten sie wieder zu den Lieblingsurlaubsorten der Deutschen: Die Insel Rügen mit ihren herausgeputzten Seebädern, die stille, autofreie Insel Hiddensee oder die langgestreckte Halbinsel Darß-Fischland-Zingst. (Deutschlandradio/Silke Hasselmann)
    Binz auf Rügen. Früher Vormittag, die Sonne schaut endlich hervor und lässt die Ostsee glitzern. Eine Familie aus Sachsen verabschiedet sich an der Hotelrezeption - die fünfjährige Tochter mit Schwimmflügeln an den Armen, denn es geht an den Strand.
    Auch in diesem verregneten Sommer gehörten sie wieder zu den Lieblingsurlaubsorten der Deutschen: Die Insel Rügen mit ihren herausgeputzten Seebädern, die stille, autofreie Insel Hiddensee oder die langgetreckte Halbinsel Darß-Fischland-Zingst. Zumindest im Sommer tobt hier das Leben. Arbeitslos muss niemand sein. Doch zum Landkreis Vorpommern-Rügen gehört vor allem dünn besiedeltes, landwirtschaftlich geprägtes Hinterland.
    Das Ortsschild des Seeheilbads Zingst im Landkreis Vorpommern-Rügen
    In der Region Fischland-Darß-Zingst boomt der Tourismus. Im Hinterland jedoch ist es für Gemeinden sehr schwer ihre Einwohner zu halten (Deutschlandradio/Silke Hasselmann)
    Und da herrsche oft "tote Hose", sagen Elektromeister Herbert Waggin und seine Frau. In ihrem Dorf bei Grimmen, gut 40 Kilometer von der Ostseeküste entfernt, hätten einst zahlreiche Handwerksbetriebe für Arbeitsplätze gesorgt. Auch ihr Eigener. Und nun? Fast alle entlassen.
    Mann: "Wir sind hier runter von 20 Mann auf einen. Die Handwerker hier, die sterben alle aus."
    Frau: "Meine Tochter, die ist in Berlin. Hat hier gelernt. Sie möchte gern zurückkommen, aber was sollen sie hier? Arbeit gibt es nicht. Hier ist ja nichts angekommen. Fast nichts in Vorpommern! Da wird so viel versprochen vor der Wahl, und dann passiert jahrelang nichts."
    Gastgewerbe zahlt nur Mindestlohn
    Die Kritik richtet sich vor allem an die Landesregierung im 150 Kilometer entfernten Schwerin. Doch auch der Kreistag ist gefragt, wenn es zum Beispiel darum geht, Gelder aus dem neuen "Strategiefonds für benachteiligte Gebiete" hierher zu holen, sagt Claudia Müller. Sie leitet die kleine grüne Kreistagsfraktion und bemüht sich nun um den Sprung in den Bundestag. In ihrem Wahlkreis den richtigen Ton zu treffen, ist nicht ganz einfach. Denn wer ständig das vermeintliche "Abgehängtsein" betont, redet sich, die anderen Einwohner und den gesamten Landkreis klein. Also unterscheidet die junge Politikerin:
    "Der Landkreis ist ja gebildet worden aus drei sehr unterschiedlichen Regionen. Einmal die Insel Rügen, die ganz klar touristisch geprägt ist und deshalb vom Einkommensniveau her am niedrigsten in Deutschland."
    Der Ostsee-Strand am Abend
    Vorpommern-Rügen hat vom Bund einen symbolischen Scheck über 77 Millionen Euro erhalten - deutschlandweiter Spitzenwert unter den Landkreisen (Deutschlandradio/Silke Hasselmann)
    Klingt überraschend. Doch bis auf einige Ausnahmen zahlt das Gastgewerbe in Mecklenburg-Vorpommern nur den Mindestlohn. Zudem melden sich viele Beschäftigte wegen des Saisongeschäfts immer wieder arbeitslos.
    Fachkräftemangel in vielen Bereichen
    "Wir haben die Hansestadt Stralsund, der ich den Titel 'abgehängt' definitiv nicht geben würde. Im Gegenteil: Da haben wir einen Bevölkerungszuzug. Wir haben eine Hochschule dort. Da entwickelt sich was. Und wir haben den Altkreis Nordvorpommern, der sehr unterschiedlich ist - mit boomenden Tourismusregionen Fischland-Darß-Zingst, aber auch mit dem Hinterland, wo es tatsächlich sehr schwierig ist für die Gemeinden, ihre Einwohner zu halten, beziehungsweise junge Menschen zu bewegen, dorthin zu ziehen. Am ehesten begegnet es einem im Bereich Nahverkehr. Ganz aktuell gibt es eine Diskussion, ob eine Bahnstrecke nach Barth erhalten bleibt oder nicht. Wenn die wegfällt, wird eine ganze Region wortwörtlich abgehängt."
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    In Stralsund ist ein Bevölkerungszuzug zu verzeichnen (Deutschlandradio/Silke Hasselmann)
    Immerhin: In Grimmen hält die Bahn noch. Dabei verlor auch dieses Städtchen am südlichen Rand des Landkreises Vorpommern-Rügen nach der Wende viele Jobs, dann die jungen Leute und später den Status einer Kreisstadt. Heute gilt Grimmen im Bürokratendeutsch als "demografisch und sozial besonders herausgefordert". Von den nur noch 10.000 Einwohnern sind die meisten bereits Rentner oder langzeitarbeitslos im Hartz-4-System.
    Dabei gibt es längst wieder viel zu tun - vor allem im Bereich der Pflege und Rehabilitation. Das merkt auch Marina Gärtner, eine von drei Logopädinnen in der Stadt. Gern würde sie eine weitere Fachkraft anstellen, doch wie fast überall auf dem Land gestalte sich die Suche sehr mühsam, so die 41-Jährige:
    "Gerade in dieser Region haben wir unheimlich viele Intensivpflegestationen. Auch viele Pflegeheime, wo der Bedarf da ist, aber keine Pflegekräfte beziehungsweise Logopäden. Das geht nicht uns nur so, sondern auch den Ergotherapeuten und den Physiotherapeuten. Sicherlich sind Bewerbungen da, auch aus den Großstädten. Aber oft höre ich, dass die jungen Menschen nicht aufs Land wollen. Also man müsste die Region ein bisschen attraktiver machen. Unsere Region."
    Da leben und arbeiten, wo andere Urlaub machen
    Deutlich weniger Funklöcher und vor allem endlich ein flächendeckender Zugang zu schnellem Internet - das würde schon helfen. Nun hat Vorpommern-Rügen vom Bund einen symbolischen Scheck über 77 Millionen Euro erhalten - deutschlandweiter Spitzenwert unter den Landkreisen. Denn hier haben sich die Kommunen besonders rührig um die Förderung des Breitband-Ausbaus beworben - auch in dem Wissen, dass bei einer Förderzusage des Bundes die restlichen 30-50 Prozent der Ausbaukosten vom Land bezahlt werden, freut sich der zuständige Minister, Christian Pegel von der SPD:
    "Auch das wird noch mal wieder eine riesige Infrastrukturleistung sein, von der wir überzeugt sind, dass sie das Leben im ländlichen Raum einen Tick leichter macht. Da ist zwar manche daseinsvorsorgende Einrichtung schwerer erreichbar. Aber per Internet kann ich heute eigentlich alles anbinden. Ich glaube aber auch, dass das für gewisse Berufsgruppen eine Chance bietet. Wenn ich auf große Datenleitungen als programmierender oder kreativer Beruf angewiesen bin, aber nicht zwingend meine Kunden jeden Tag sehen muss, dann habe ich auch eine Chance damit zu werben, dass ich Datenleitungen habe wie in Berlin, aber trotzdem da arbeite, wo andere Urlaub machen. Also wir hoffen schon, dass wir mit so kleinen Maßnahmen stabilisierend und strukturstärkend wirken können."