Donnerstag, 18. April 2024

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Landschaft als ein instabiler Zustand

"Die deutsche Landschaft war alles, nur nicht unveränderlich", schreibt David Blackbourn gleich in der Einleitung seiner Geschichte der Trockenlegung von Mooren und der Flussbegradigungen, der Schiffbarmachungen und Landgewinnungen in deutschen Landen, vom Preußen des 18. Jahrhunderts über das Kaiserreich und die Weimarer Republik bis ins geteilte Deutschland und noch darüber hinaus. Sie war nicht unveränderlich, als Goethe noch Lachse aus dem Rhein fischen konnte, und auch nicht, als Theodor Fontane das Oderbruch beschrieb. Sie war keine Konstante mit Ewigkeitswert, als die Naturschützer sich gegen den Talsperrenbau wehrten, und auch nicht, als die Nationalsozialisten 1935 weitreichende Naturschutzgesetze erließen, ohne sich dann allerdings allzu genau daran zu halten.

Von Michael Schmitt | 18.11.2007
    Blackbourns Satz, so wie das ganze Buch des Harvard-Historikers und ausgewiesenen Fachmanns für deutsche Geschichte, steht quer zu fast allem, was man seit der Romantik der deutschen Landschaft an realen und mythischen Qualitäten nachsagt. Die Auenwälder und Moore, die Seen und Flüsse, die so oft zu Sinnbildern überhöht werden, sind niemals den Zeitläuften enthobene Orte gewesen; sie hatten nie jene beharrende, quasi statische Qualität, die bei Gelegenheit ästhetisch oder ideologisch gegen Industrialisierung und Modernisierung ausgespielt werden konnte. Die mal zu melancholischen Betrachtungen Anlass gab, die aber auch als innerlich geschaute Welt etwa in Rudolf Borchardts Anthologie "Der Deutsche in der Landschaft" 1925 zum Rückzugsort weitgereister Schriftsteller werden konnte.

    Immer wieder wird an David Blackbourns eingehenden Fallstudien nur eines deutlich: Landschaft ist nicht per se gut und bewahrenswert. Landschaft befindet sich vielmehr von Anbeginn in einem Spannungsverhältnis zwischen natürlichen Veränderungen, menschlichen Eingriffen und politischem Handeln. "Landschaft" ist ein instabiler Zustand - und wenn David Blackbourn anhand des Leitthemas "Wasserbau" einen Zugang zu dessen Geschichte in den letzten zweihundert Jahren sucht, dann zum einen, weil diese Eingriffe seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gewaltige Ausmaße annehmen - im Zeichen von Fortschritt und aufgeklärtem Absolutismus - und weil ungefähr gleichzeitig durch Empfindsamkeit und durch Rousseaus Parole "Zurück zur Natur" sich auch schon eine Opposition gegen diese Form des Zugriffs auf die Welt formiert. Blackbourn erzählt also nicht nur vom Wasser und von den Gefahren, die es mit sich bringt, sondern er verflüssigt das gesamte Bild von der Landschaft.

    "Was die Naturschützer zu einem bestimmten Zeitpunkt schützen wollten, war der Status quo zwischen einer Reihe menschlicher Eingriffe der Vergangenheit und einer Reihe zukünftiger Eingriffe - das Überbleibsel eines 'Fortschritts' von gestern, nachdem es eine Patina von 'Natürlichkeit' angenommen hatte. Waren die Fortschrittsgläubigen zu oft geblendet von den endgültigen Lösungen der Gegenwart, so haben die kritischen Umweltschützer allzu oft ein unrealistisches Bild der Vergangenheit gezeichnet und Lebensräumen eine Urwüchsigkeit zugeschrieben, auch wenn diese seit langem die Spuren menschlicher Eingriffe trugen."

    Aber David Blackbourn ist nicht nur ein findiger Historiker, der zahllose, oft überraschende Quellen auswertet, er ist auch ein Stilist und ein Ironiker, der aus dieser Geschichte menschlichen Handelns da die schönsten Pointen herausarbeitet, wo die Lösungen der Gegenwart sich als schlimmer erweisen als es die Probleme der Vergangenheit jemals gewesen sind.

    Die "Eroberung der Natur", die seinem Buch den Titel gibt, ist eine Parole der Mitte des 18. Jahrhunderts, die aus den Erfahrungen und Zwängen mit steigenden Bevölkerungszahlen erwachsen - nicht nur in Preußen, aber vor allem dort. Man will Neusiedler gewinnen, um mehr Menschen und damit auch mehr Soldaten im Land zu haben; man braucht bessere Straßen, um dem eigenen Militär schnellere Märsche zu ermöglichen. Gleichzeitig werden Bären und Wölfe ausgerottet, und auch Spatzen werden millionenfach getötet. In Preußen läuft das ab wie eine militärische Operation - und kommt auch erst richtig in Schwung, als immer mehr Soldaten zum Dienst im Schlamm abkommandiert werden, weil die Zivilverwaltung nicht effizient genug arbeitet.

    Beispielhaft dafür steht die Trockenlegung des Oderbruchs in der Zeit Friedrichs des Zweiten - also jenes Landstrichs, wo 1997 erneut ein Hochwasser die Republik drei Wochen lang in Atem gehalten hat, per Fernsehberichterstattung und durch die Heldenposen jener Politiker, die sich auf den Deichen und unter den Katastrophenhelfern ablichten ließen, um ihre Popularitätswerte zu steigern. Das Oderbruch um 1740 ist ein labyrinthisches Netz von Wasserwegen und kleinen Inseln, locker von Buschwerk bewachsen - und ist in dieser jahrhundertealten Gestalt dennoch nicht wirklich im Gedächtnis der Menschen verankert geblieben, obwohl es nicht nur von Matthäus Merian Mitte des 17. Jahrhunderts, sondern auch von reisenden Künstlern des 18. Jahrhunderts immer wieder so dargestellt worden ist:

    "Das sind natürlich stilisierte Landschaften, und der Blick von oben lässt das Buschwerk zweifellos dichter erscheinen als es tatsächlich war. Doch während diese Darstellungen in mancher Hinsicht zu einer Romantisierung neigen, arbeiten sie auf der anderen Seite auch romantischen legenden entgegen. Im Unterschied zu dem Bild des Oderbruchs vor seiner Trockenlegung, das Theodor Fontane in seinen 1861 erschienen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" zeichnet, die seitdem unablässig nachgedruckt wurden, war dies kein Urwald mit zahlreichen Kletterpflanzen. Wie kartographische Quellen zeigen, gab es nur wenige bewaldete Stellen mit festem Boden. Offene Flecken aus Morast und Tümpeln, deren Vegetation hauptsächlich aus Gras und Schilf bestand, wechselten sich ab mit Flächen aus dichtem Unterholz auf Morast und Erlen. Zweimal im Jahr stand das Oderbruch drei bis dreieinhalb Meter unter Wasser (...). Und zweimal im Jahr, nachdem das Hochwasser abgeflossen war, hatten sich alte Durchflüsse geschlossen und neue Seitenarme des Flusses gebildet. Es war ein Landstrich, über dem sich die Nebel drehten, der Aufenthaltsort zahlreicher Arten von Vögeln, Fischen und Säugetieren, wo 'dicke Säulen von Mücken' ein Geräusch machten, 'als würden in der Ferne die Trommeln gerührt.'"

    Hier haben schon Deutschordensritter und Zisterzienser versucht, die Sümpfe zu kultivieren; erfolgreich aber sind erst die Preußen, denen holländische Fachleute zur Seite stehen. Sie schaffen Land für Menschen, die zu Hunderttausenden unterwegs sind. Wie Wallfahrer ziehen die Kolonisten in ihre neuen Dörfer, die geometrisch angelegt worden sind, und auf deren Äckern sie mit neugezüchtetem Saatgut bessere Erträge erwirtschaften sollen. Sie singen religiöse Lieder, ziehen ihre Habe auf Karren hinter sich her - und wo sie eintreffen, da lösen sie manchmal Tumulte aus, weil sie fremd und also bedrohlich erscheinen. Zudem nimmt man ihnen übel, dass sie Privilegien und Unterstützung genießen, die der angestammten Bevölkerung nicht gewährt werden.

    Blackbourn zeichnet Bilder, die man sich so in deutschen Landen üblicherweise kaum vorstellen kann; manchmal erinnert das an die Trecks im noch weitaus mythischeren Wilden Westen - und ähnlich wie auf den Prärien gibt es in den Sümpfen des Oderbruchs oder in anderen Moorgebieten immer auch schon eine Bevölkerung, die dort seit langem ansässig war und nun dem Fortschritt weichen muss. Wer würde so ohne weiteres auf deutschem Boden mit Menschen rechnen, die unter Bedingungen gelebt haben, wie man sie eigentlich aus dem tiefen Süden der USA, aus Louisiana, zu kennen glaubt, wo die französischstämmigen Cajuns ihre Eigenheiten bewahrt haben, oder aus dem Delta von Euphrat und Tigris, wo noch den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ähnliche Wassermenschen lebten, ehe Saddam Hussein ihre Lebensräume dann trockenlegen ließ.

    "Gleich Philemon und Baucis, das alte Paar, das Fausts grandiosem Projekt der Bodengewinnung im Wege stand, gab es Menschen, die Friedrichs Kolonisationsprojekt behinderten. Das alte Oderbruch bietet hierfür ein schlagendes Beispiel. Dort befanden sich vereinzelte Dörfer, die auf sandigen Anhöhen gebaut waren. Ihre Bewohner, rund 170 Familien im eigentlichen Bruch, waren ebenso Wasser- wie Landleute. Sie lebten in der Hauptsache als Fischer von den reichen Beständen an Karpfen, Flussbarschen, Hechten, Brassen, Barben, Schleien (...) Daneben produzierten sie Heu und hielten Weidevieh, wenn der Wasserpegel niedriger stand, nutzten den Kuhmist in Verbindung mit Astwerk für den Bau von 'Wällen' gegen das Wasser; und auf diesen Wällen bauten sie Kürbisse und anderes Gemüse an. Während der meisten Zeit des Jahres - ausgenommen die Perioden des Niedrigwassers und des Eises - waren die Dörfer und ihre Häuser nur durch das Labyrinth der Wasserwege mit Flachkähnen zu erreichen."

    Am Rhein spielen sich dann Jahrzehnte später vergleichbare Dinge ab. Nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 wird in der napoleonischen Zeit der Weg frei für die großräumige Schiffbarmachung des Flusses, die vor allem dem Handel und Wandel im späteren Deutschen Bund zugute kommen wird. Der Ingenieur Johann Gottfried Tulla, ein Technokrat und Egozentriker von hohen Graden, aber eben auch ein begnadeter Fachmann, entwirft als badischer Beamter die Pläne, die dann seit den späten Zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis in dessen sechziger Jahre hinein verwirklicht werden.

    Es ist das größte Bauvorhaben, das bis dahin in Deutschland in Angriff genommen worden ist. Der Rhein zwischen Worms und Basel wird von 345 auf 273 Kilometer gekürzt, Dutzende von Durchstichen sind nötig, 2200 Inseln verschwinden, tausend Quadratkilometer Land werden dabei abgetragen, 240 Kilometer Deiche aufgeschüttet. Das bedeutet mühselige Arbeit bei jedem einzelnen Durchstich, und manchmal dauert es acht oder neun Jahre bis zur Fertigstellung. Das Projekt ist gigantisch -- und auch wenn das Wissen zugenommen hat -- Kartographie, Statistik und Messinstrumente -, so sind doch die Arbeitsmittel weiterhin primitiv.

    "Zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der größte Teil der Arbeit mit menschlicher Muskelkraft geleistet; Werkzeuge waren Hacken, Schaufeln, Spaten und Eimer. Die andere Hauptenergiequelle waren Pferde. In dieser Hinsicht glich die Rheinkorrektion der Trockenlegung des Oderbruchs. Sie hatte sogar noch mehr Ähnlichkeit mit den fruchtlosen Versuchen Karls des Großen mehr als tausend Jahre zuvor, einen Kanal zwischen Main und Donau zu bauen. Beim Bau der Fossa Carolina im Jahr 793 waren bis zu zehntausend Arbeiter im Einsatz. In jeder Phase der Rheinbegradigung befanden sich 3000 Arbeiter auf den Baustellen - verstärkt (wie im Oderbruch) durch Soldaten, von denen rund 800 bei den Ausschachtungsarbeiten zum Durchstich bei Eggenstein mithalfen. Tullas Traum war bereits weitgehend verwirklicht, als die Mechanisierung des Bauwesens einsetzte, zu einer Zeit, in der die Bevölkerung einen starken Zuwachs erlebte."

    Der Rhein zu Zeiten Goethes war voller Lachse und anderer Wanderfische gewesen, und an vielen Stellen hatten die Menschen Gold aus dem Flusssand waschen können - das berühmte Rheingold. Nach der Begradigung ist es damit vorbei. Der Rhein, der dann tatsächlich zum nationalen Symbol erhoben wird, ist ein ganz neuer Fluss: 80 Kilometer kürzer; ärmer an Auen und an Seitenarmen. Goethe hätte ihn nicht wieder erkannt, Goldwäscher gibt es keine mehr, Dörfer sind geopfert worden und viele Menschen haben Widerstand geleistet, aber Tulla hat sich durchgesetzt. Nun fließt der Rhein schneller, die Lachse verschwinden, das Grundwasser am Oberrhein sinkt, aber die Überflutungsgefahr rheinabwärts nimmt deutlich zu, weil das Hochwasser sich im Oberrheingraben nicht mehr verlaufen kann.
    Im Gegenzug fahren schon bald immer mehr Dampfboote für die Touristen, die ähnlich wie die ersten Eisenbahnpassagiere ganz neue Panoramen bewundern können -- und jenes Bild vom Rhein zu schätzen lernen, das heute stellenweise zum Weltkulturerbe erhoben worden ist.

    Lange vor der Gründung des Deutschen Kaiserreiches herrscht auf deutschem Boden also eine Dynamik, die in krassem Gegensatz zu jenem Bild vom verträumten Dichter und Denker steht, das sich mit der Vorstellung vom Deutschen in seiner Seelenlandschaft üblicherweise verbindet. Auch das ist eine der Ironien der Geschichte, die Blackbourn herausarbeitet.

    Die Kräfte des Forschritts greifen tief in das Landschaftsbild ein, obwohl es an technischen Mitteln noch fehlt; im Kaiserreich wird sich das fortsetzen - und weil die Landschaft dadurch zum Problem wird, wird sie auch zum Gegenstand eingehenderer Reflektionen. Der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl, dessen Arbeiten später von den Nazis ideologisch vereinnahmt werden, stellt 1854 in seinem Buch "Land und Leute" Korrelationen zwischen der Landschaft und den Charaktertypen her, die darin leben; und er schlägt sich auf die Seite der Bauern, weil die ein beharrendes Element gegenüber dem Fortschritt behaupten. Aber während in den darauf folgenden Jahrzehnten Wilhelm Raabe einen Umweltskandal beschreibt - in "Pfisters Mühle" -- und während Wilhelm Bölsche 1915 die deutsche Landschaft als das höchste zu verteidigende Gut im Ersten Weltkrieg preist, graben sich die kaiserzeitlichen Deutschen nur noch tiefer in diese Landschaft hinein.

    Im Jadebusen wird unter katastrophalen Arbeitsbedingungen und nach vielen Rückschlägen ein Hafenbecken ausgehoben, das die geplante kaiserliche Kriegsflotte beherbergen muss, mit der die Weltgeltung des Reiches erkämpft werden soll. Auch hier bewegen vor allem Heerscharen von Arbeitern mit Schaufeln und Schubkarren die Erde, während ringsumher noch nicht einmal die Trinkwasser-Versorgung für die sich Abplackenden gesichert ist. Und als es Oskar von Miller 1891 gelingt, Strom zu erzeugen und ihn per Leitung zu transportieren, um ihn anderswo zu nutzen, da gibt er ein Startsignal für den Bau von Stauseen, vor allem in den Mittelgebirgen und in den Alpen, wo dann im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ganze Heerscharen von Ingenieuren beschäftigt werden können, die von den neuen Technischen Hochschulen herbeiströmen. Sie arbeiten in Teams und treten an die Stelle genialer Einzelkämpfer. Sie arbeiten einerseits ganz traditionell am Schutz vor den Wassermassen, andererseits aber auch, als Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hat, an neuen Formen der Selbstversorgung mit Energie.

    Wo ihre Projekte verwirklicht werden, müssen erneut Menschen ihre Dörfer aufgeben, die dann im Wasser versinken, so wie schon am Rhein - und heutzutage auch am chinesischen Dreischluchtendamm am Jangtse. Stauseen sind technokratische Veranstaltungen. Sie erhöhen an manchen Orten die Erdbebengefahr, sie schaffen Wasserkörper, in denen ganz neue ökologische Bedingungen herrschen, und an ihren Ufern und auf den Wasserflächen tummeln sich bald schon die Urlauber und Freizeitsportler.

    Will sagen: sie antworten auf neue Herausforderungen und schaffen dabei ungeahnte Möglichkeiten. Sie sind nicht immer ökologisch problematisch - den frühen Naturschützern der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts aber sind sie dennoch ein Dorn im Auge, denn die horizontalen Wasserlinien zerstören das abwechselungsreichere frühere Bild der Täler und Schluchten. Naturschutz in der ersten Jahrhunderthälfte argumentiert vorwiegend ästhetisch, Naturschutz ist eine Sache konservativer Geister - und wird von den Nationalsozialisten dann instrumentalisiert.

    "Die wahrhaft deutsche Landschaft sollte lebendig, aufgelockert, sauber und geordnet, vor allem aber 'gesund' sein" - so beschreibt David Blackbourn die grundlegende Disposition nationalsozialistischer Funktionäre und führt weiter aus:

    "Zwischen dem deutschen Naturschutz und dem Nationalsozialismus bestanden zahlreiche unleugbare Affinitäten. Beide teilten einen Affekt gegen Großstädte und einen 'kalten' Materialismus, betonten die Tugenden des Organischen und des 'Traditionellen', machten einen ungezügelten liberalen Kapitalismus verantwortlich für die Bedrohungen der Landschaft und waren sich sogar in einer ganzen Reihe von spontanen Abneigungen einig. (....) Viele Naturschützer hegten einen unter Konservativen in der Weimarer Republik stark verbreiteten Antisemitismus, und einige der prominentesten unter ihnen (....) schrieben in ungeniert rassebiologischen Begriffen über ein deutsches Volk, das in seinem Heimatboden wurzele (...)"

    Damit lassen sich Ideologien und Lebensraumvorstellungen untermauern, wie sie vor allem im Osten, also in Polen, geplant werden, als Volksdeutsche da angesiedelt werden sollen, wo die polnische Bevölkerung und die Juden vertrieben bzw. in Lagern zusammengepfercht worden sind. Sie greifen dann aber weit darüber hinaus, als die Gestaltung der Landschaft schließlich auch in den Dienst des Völkermordes gestellt wird.

    "Mehr noch als der Straßenbau erschienen den Nationalsozialisten die Sümpfe als der geeignete Ort, an dem man die Juden bis zur Erschöpfung und darüber hinaus arbeiten lassen könnte. (...) Die Arbeitsbrigaden aus den Zwangsarbeitslagern und den Ghettos im Generalgouvernement wurden häufig zu Flussregulierungs- und Entwässerungsprojekten eingesetzt. Und das galt auch für das Herz der Finsternis des SS-Reichs, das Vernichtungslager Auschwitz. Das Lager wurde auf den Sümpfen Oberschlesiens errichtet. Sein Kommandant Rudolf Höß schilderte später, wie Himmler ihm während eines Besuchs Anfang März 1941 befahl, das Lager als das Große Lager im Osten auszubauen und 'insbesondere die Häftlinge in der größtmöglich auszubauenden Landwirtschaft einzusetzen und damit das ganze Sumpf- und Überschwemmungsgebiet an der Weichsel nutzbar zu machen.' Als Primo Levi Auschwitz später als den 'anus mundi' bezeichnete, 'die letzte Kloake des deutschen Universums', hatte er durch die Köpfe seiner Verfolger gedacht, für die Entwässerung sowohl eine Metapher als auch eine Realität war."

    Der letzte Akt dieses Dramas, nachdem die "Endlösung" beschlossene Sache ist, spielt sich in den Pripjet-Sümpfen im Grenzgebiet zwischen Polen und der Ukraine ab, wo nicht nur Juden sterben , sondern auch Unterschlupf-Möglichkeiten jener Partisanen ausgetrocknet werden sollen, von denen Primo Levi später ebenfalls in seinen Büchern erzählt hat.

    Von einem solchen Natur- und Landschaftsschutzverständnis, das sich den Verbrechen an der Menschlichkeit unterordneten konnte, bleibt nach dem Zweiten Weltkrieg in der jungen Bundesrepublik ziemlich schnell nur mehr wenig übrig. Es gibt die konservativen Geister noch, aber vor allem gibt es das Wirtschaftswunder und den ungezügelten Anstieg von Produktion und Verbrauch, die binnen zwei Jahrzehnten mehr und weitreichender in das Bild der Landschaft eingreifen, als alles, was in den Jahrhunderten zuvor geschehen ist. Mit den Wasserbauprojekten allein sind diese Veränderungen nicht mehr zu erklären - und insoweit stößt David Blackbourn hier an die Grenzen seiner Darstellungsmöglichkeiten, denn er blendet die Zersiedelung der Landschaft, den Straßenbau und vieles andere weitgehend aus.

    Aber er will ja auch nur eine Version der Geschichte der Landschaft liefern -- und wenn er konsequent bei seinem Leitthema bleibt und den meterhohen Schaum auf manchen Gewässern beschreibt, der in den Wirtschaftswunderjahren anzutreffen war, dann wird plausibel genug, wie einschneidend der Umschwung vom alten Naturschutz zu einer aktiven Umweltpolitik seit den späten Sechzigern zu bewerten ist. Im November 1969 wird unter der gerade installierten SPD/FDP-Regierung im Innenministerium einen Abteilung für Umweltschutz eingerichtet. Wenig später macht sich in der Bevölkerung einen immer stärkere Sensibilisierung für dieses Thema breit. Und noch ein paar Jahre darauf tritt die Umweltschutzbewegung das Erbe der studentischen Rebellen der 68er Ära an. Als viel bunter gemischter Haufen - aber eben nicht mehr als eine Schar ästhetischer gesonnener Naturschützer im alten Stil. Das sind Entwicklungen, die Blackbourn im letzten Kapitel teilweise nur kursorisch streift, die aber natürlich für die Haltung der Gegenwart zum Thema "Umwelt" und "Landschaft" sehr bestimmend sind. Sie sind zudem bestimmend für den grundsätzlichen Unterschied zwischen zur Deutschen Demokratischen Republik, wo im Zeichen der Konkurrenz mit dem wirtschaftlich erfolgreicheren Westdeutschland der Umweltschutz niemals diese Rolle spielt.

    Man muss David Blackbourns Buch aus dieser relativen Knappheit am Ende also keinen Vorwurf machen - denn genauso quer wie dieses Buch zu allem steht, was über die deutsche Landschaft als mythische Veranstaltung gesagt worden ist, so quer steht es auch zu allen aktuellen Debatten um Rohstoffverknappung, Umweltzerstörung, CO2-Austoß oder Weltklima. Das alles schlägt sich in der Landschaft nieder, aber Landschaft resultiert aus sehr viel mehr Faktoren, sie ist der Ort, wo immer schon Einflüsse und Reaktionen aufeinender folgen und sich gegenseitig beeinflussen, unabhängig von Debatten oder kurzlebigen Maßnahmen. "Die Eroberung der Natur" ist also keine Fibel für Natur- oder Umweltschützer - und sie will es auch nicht sein.

    Was das bedeutet, kann man an einem nicht ganz zufälligen Beispiel gut erkennen. Denn nach 34 Jahren ist gerade eben eines der legendärsten Werke der engagierte, aufgeklärten Bilderbuchkunst für Kinder wieder aufgelegt worden, Jörg Müllers siebenteiliger Zyklus "Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder oder die Veränderung der Landschaft". Als dieses Werk 1973 erschien, war es direkt beeinflusst vom Schmutz und von der Zersiedelung der Wirtschaftswunderzeit und sicher auch von der ersten Angst vor den "Grenzen des Wachstum" nach der Veröffentlichung des "Club of Rome" im Jahr zuvor. Siebenmal wird die gleiche Landschaft gezeigt, zwischen 1950 und 1973, und wo am Anfang Idylle, Land, Wasser, Grün und wenige Häuser dominieren, sind am Ende Einkaufszentren, breite Strassen, kanalisierte, überbaute Wasserströme. Aus dem Geist der damaligen Zeit ist das nur zu verständlich in dieser polemischen Zuspitzung - mit den Augen von David Blackbourn gesehen, aber entpuppt sich die Ausgangsposition, die Idylle von 1950 als idealisierte, durchaus ideologische Darstellung, die so gegen die Welt wie sie geworden ist, eigentlich nicht ausgespielt werden kann. Denn menschliches Handeln ist auch dieser Landschaft schon überall eingeschrieben.

    Solche Distanz erlaubt dem Historiker eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit seinem Thema - auch wenn er sich selbst nicht als Optimisten darstellt. Er schreibt, dass er mit zunehmendem Alter dazu neige, alles eher "den Bach hinunter" gehen zu sehen. Er übersieht auch nicht, wie schwierig aktiver Umweltschutz in einer in Interessengruppen zersplitterten Demokratie zu bewerkstelligen ist. Aber zum einen tröstet ihn, dass an vielen Stellen, wo etwas Künstliches angelegt worden ist, die Natur mit der Zeit doch einiges korrigiert hat. Und zum anderen stellt er heraus, dass heute in Deutschland zwar womöglich um die Landschaft gerungen wird, dass es dabei aber nicht mehr, wie allzu oft in früheren Zeiten, gleich auch um die Eroberung von fremden Gebieten oder um das Leben von fremden Menschen geht.

    David Blackbourn: Die Eroberung der Natur.
    Eine Geschichte der deutschen Landschaft.
    Deutsch von Udo Rennert, Deutsche Verlagsanstalt,
    München, Herbst 2007
    (Michael Schmitt / Wiesbaden)