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Landschaften des Glücks

Er war Zeitgenosse von Rachmaninow und dem jungen Gorki, war befreundet mit Anton Tschechow, wurde nur knapp 40 Jahre alt, und prägte die russische Landschaftsmalerei doch nachhaltig: Isaak Iljitsch Lewitan wurde am 30. August 1860, heute vor 150 Jahren, geboren, und zählt zu den wichtigsten russischen Landschaftsmalern.

Von Anette Schneider | 30.08.2010
    "Der Blick fällt auf Wiesen, einige Bauernhütten und herbstliche Birken, die wie goldene Flammen in der Landschaft stehen.
    Er fällt auf die Wolga, die gewaltig breit und still dahinzieht, am linken Bildrand begrenzt von einem bewaldeten Steilufer.
    Er fällt auf einen See, der geheimnisvoll im Abendlicht leuchtet."

    Isaak Iljitsch Lewitan ist der wohl wichtigste russische Landschaftsmaler. Am 30. August 1860 im heutigen Litauen geboren und in ärmlichen Verhältnissen in Moskau aufgewachsen, ist er Begründer einer lyrischen Landschaftsmalerei, in der die Natur Trägerin von Gedanken und Gefühlen ist. So gilt das künstlerische Credo, mit dem Lewitan Mitte der 1880er Jahre seinen Lehrer Alexej Sawrassow charakterisierte, auch für ihn selbst:

    "Er war bemüht, im Einfachsten und Gewöhnlichsten die intimen, tief bewegenden, oft melancholischen Züge zu finden, die in unserer heimatlichen Landschaft so stark spürbar sind und unwiderstehlich die Seele berühren."

    Zeigten die Landschaftsmaler vor Lewitan das Dorfleben abbildhaft genau, oder gaben dekorative Sujets wieder, komponierte Lewitan Landschaften und entwickelte neue, völlig unspektakuläre Motive: Immer wieder malte er Wege, die sich durch Felder schlängeln, Seen bei Sonne und Regen, weite Blicke über die Wolga hinweg. Diese "verallgemeinerten Landschaften" spiegeln Gefühle, Gedanken und Stimmungen: Melancholie. Die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Veränderung. Einen Moment des Glücks.

    "Weit erstreckt sich der sommerliche See. An seinem Ufer liegen Ackerfelder und Wiesen, Siedlungen und Kirchen. An dem hohen Himmel ziehen feierlich weiße Wolken dahin."

    Das über zwei Meter breite Bild "Der See. Russland" entstand kurz vor Lewitans Tod. Alexej Fjodorow-Dawydow schreibt dazu in seinem 1996 erschienen Buch "Isaak Lewitan. Das Geheimnis der Natur":

    "Alles strahlt Schönheit, Überfluss, Frieden und Kraft aus. Dies ist ein reiches Land, in dem der Mensch sich in die Natur eingelebt und diese durch sein Schaffen veredelt hat. Dies ist keine ausgesuchte Ansicht, kein zufälliger Winkel der Natur, sondern Symbol für das ganze Land."

    1873 hatte Lewitan eine Ausbildung an der fortschrittlichen Moskauer Schule für Malerei begonnen. Nach dem frühen Tod seiner Eltern wurden ihm wegen seiner "großen Begabung" die Studiengebühren erlassen, obwohl Landschaftsmalerei als unwichtig galt: Angesichts der revolutionär-demokratischen Volksbewegungen forderten progressive Künstler eine aufklärerische, sich einmischende Kunst. 1871 hatten sie dafür die "Genossenschaft der Wanderkunstausstellungen" gegründet, deren Mitglied Lewitan 1884 wurde. Die Ausstellungen zeigten vor allem Historien- und Genrebilder, auf denen Maler wie Ilja Repin oder Wassili Surikow von Armut, Gewalt und Herrscherwillkür erzählten.

    Doch auch Lewitan beschäftigten diese Themen:

    "Ein breiter, ausgetretener Weg führt endlos durch eine karge baumlose Landschaft. Über ihr hängt ein trister, grauer Himmel."

    Das Werk "Wladimirka" entstand 1892. Wladimirka hieß der Weg, auf dem der Zar Menschen in die Verbannung nach Sibirien schickte.

    Lewitan hatte schnell Erfolg: Der Kunstmäzen Tretjakow kaufte Bilder von ihm an, es folgten Ausstellungen, unter anderem in München.

    Arbeitete der Künstler anfänglich detailreich, vereinfachte er seine Form in den 1880er Jahren, schuf mit groben Strichen Landschaften, die soziale Ideen spiegeln, Fragen nach dem Sinn des Daseins aufwerfen.

    "Kann denn etwas tragischer sein, als die unendliche Schönheit der Welt zu fühlen, das verborgene Geheimnis zu spüren und, im Bewusstsein seiner Ohnmacht, nicht imstande zu sein, diese großen Empfindungen auszudrücken?","

    schrieb Lewitan 1887 an seinen Freund Anton Tschechow.

    Beide strebten "Stimmungslandschaften" an, eine Art Vermenschlichung der Natur. Beide waren darin Meister. Tschechow als Literat, Lewitan, der mit knapp 40 Jahren einem Herzleiden erlag, malend. Lewitan-Biograf Alexej Fjodorow-Dawydow:

    ""Die Fähigkeit, im Gegenwärtigen das Unvergängliche zu sehen, in einer kleinen Landschaft seine Heimat und seine Epoche wiederzugeben und davon so viel und lyrisch zu berichten, diese bemerkenswerte Einheit von Geist, Gefühl und künstlerischer Scharfsichtigkeit macht Lewitans Werk zu einer für uns wertvollen Hinterlassenschaft."