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Lange Tage. Erzählungen

Von Autoren, die mit einem Erzählband debütiert haben, erwartet man in der Folge normalerweise einen Roman. Die 1974 geborene Maike Wetzel, die auch als Regisseurin arbeitet und vor drei Jahren mit ihrem Erzählband Hochzeiten ein viel beachtetes Debüt feierte, ignoriert diese Regel und legt nun einen weiteren Band mit Erzählungen vor. Lange Tage heißt der - unspektakulärer, unprätentiöser könnte ein Titel kaum sein. Läßt er nicht gar an Langeweile denken, jedenfalls an nichts Kurzweiliges, Unterhaltsames?

Martin Krumbholz | 19.09.2003
    Doch der Titel entspricht dem Gestus, mit dem Maike Wetzel erzählt. Sie ist so überhaupt nicht auf Pointen aus, ebenso wenig auf Thesen, dafür blickt sie genau hin, beobachtet sorgfältig, lässt ihren Figuren Raum und Zeit. Die erste Geschichte, "Zeugen", beginnt zwar mit einem Knalleffekt: mit einem tödlichen Unfall, ein Wagen mit vier Jugendlichen prallt gegen einen Baum; doch die Vorgeschichte des Unfalls, die nun erzählt wird, kommt völlig ohne Effekte aus, sie scheint das Geschehen geradezu entdramatisieren zu wollen, obwohl sich nach und nach herausstellt, dass die Ich-Erzählerin, mit einem Begleiter Zeugin des Unfalls, insofern in die Ereignisse verwickelt ist, als sie mit dem Fahrer des Unfallwagens am Beginn einer Liaison stand.

    Maike Wetzel interessiert sich nicht für moralische Fragestellungen. Ihre Ich-Erzählerin hat mit dem Unfallfahrer, einem jungen Türken, angebändelt und ihn fallengelassen - vielleicht gibt es zwischen diesem Vorfall und dem Autounfall einen psychologischen Zusammenhang, aber die Entscheidung darüber bleibt offen beziehungsweise dem Urteil des Lesers überlassen. Die Autorin stellt nur die notwendigen Informationen zur Verfügung, wie für eine Versuchsanordnung. Der Freund der Ich-Erzählerin, dem sie die Geschichte Jahre später erzählt, hat erkennbar Mühe, sich einen Reim darauf zu machen, besonders auf die emotionalen Implikationen der Vorfälle. Flirt, Frustration, Unfall, Tod, womöglich Selbstmord – wie hängt das alles zusammen? Der misstrauische Freund könnte auch so etwas sein wie ein Abbild des Lesers im Text, wenn auch nicht des idealen Lesers: der sollte ein wenig Geduld haben, Phantasie und vor allem Vertrauen in das erzählerische Vermögen der Autorin.

    Denn die Mittel, mit denen Maike Wetzel arbeitet, sind immer vertrauenerweckend: Weil die Autorin den Leser nicht bevormunden will, umgarnt sie ihn auch nicht mit irgendwelchen Arabesken. Der Stil ist scheinbar einfach, in Wahrheit aber höchst artistisch: lapidar, knapp, kurz angebunden, beinahe ruppig. Immer sind die Sätze stakkatohaft kurz.

    In der Geschichte "Zwei Stimmen" bleibt fast alles offen. Zwei Frauen, die sich nicht persönlich kennen, unterhalten sich am Telefon. Die Gesprächsthemen – etwa ein Kinofilm – scheinen nur Vorwand zu sein für Ambitionen oder Interessen, die unausgesprochen bleiben. Am Ende könnte eine Verabredung stehen – oder auch nicht. "Rauchglas" erzählt von der prekären Beziehung zwischen einer Schauspielschülerin und der Direktorin des Instituts, an dem sie studiert. Es kommt zu Loyalitätskonflikten, die die fragilen emotionalen Bindungen der Figuren überlagern und aushöhlen. Stets ist Maike Wetzel an der Ambivalenz und der Brüchigkeit der Beziehungen interessiert.

    Allzu optimistisch sind die Texte also nicht temperiert. Am Schluss des Bandes aber steht eine Erzählung mit dem Titel "Fremde Fenster", die wohl die schönste ist, weil sie bei aller mentalen Reserve den Figuren eine deutliche Perspektive lässt. "Letzten Sommer sagte ein Mann zu einer Frau, ich liebe dich." So der erste Satz. Eine Liebesgeschichte also; die Bewegungen, die sich anschließen, sind allerdings viel komplizierter.

    Der Mann wirbt, die Frau versteckt sich – so einfach, so alltäglich sich das anhört, so poetisch ist es ausgeführt, und poetisch heißt in diesem Fall nicht lyrisch oder harmonisch, sondern: widerborstig, phantasievoll, um Ecken herum. "Sie fand es schwierig genug, eine Person zusammenzuhalten: Wie sollte ihr das mit zweien gelingen?" So denkt die Frau, ohne es auszusprechen. Die Erklärung des Mannes bleibt unerwidert, er aber löst sein Dilemma, indem er die ausgebliebene Antwort in Gedanken ergänzt: "Das Ergebnis entmutigte ihn nicht."

    Die Ansichtskarte, die er ihr schickt, ergänzt sie, die Lehrerin, mit Rotstiftnotaten und sendet sie an ihn zurück. "Die Liebe ist das einsamste Geschäft der Welt. Alle Kunden zahlen in fremder Währung bei einem stummen Computer mit großen Augen." So kann Kommunikation gelingen: Der eine füllt die Leerstellen, die der andere gelassen hat. Der Impuls zur Rechthaberei ist dabei tunlichst zu unterdrücken. Ähnlich soll wohl auch der Leser verfahren, der, den das Schreiben der Maike Wetzel tatsächlich intendiert.