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Langer Weg zur Spannung

Konnte man schon den berühmten Vorgängerroman "Mein Herz so weiß" als einen Anti-Krimi im Krimi-Gewand bezeichnen, ist die neue Roman-Trilogie "Dein Gesicht morgen " von Javier Marias nun erst recht ein Anti-James-Bond in der Verpackung des Spionageromans.

Von Gisa Funck | 28.03.2010
    Denn der Ich-Erzähler, der spanische Übersetzer Jaime Deza, ist alles andere als ein draufgängerischer Abenteurer, sondern ein intellektueller Grübler, der als Gastdozent in Oxford Kontakt zum britischen Geheimdienst bekommt. Jaime wird bei einem Abendessen auf Geheiß seines Mentors, dem emeritierten Hispanisten Sir Peter Wheeler, mit dem etwas unheimlichen Agenten-Chef Bertram Tupra bekannt gemacht, der ihn prompt anheuert, weil Jaime eine besondere Gabe besitzt. Die Gabe, fremde Menschen gut einschätzen und ihr zukünftiges "Gesicht von morgen" erkennen zu können, wie es Titel spendend heißt.

    Der Wort-Übersetzer wird zum Menschen-Übersetzer. Oder moderner ausgedrückt: zum Profiler, der für jene berühmte Einheit M16 des Secret Service Charakterprofile erstellt, für die auch schon 007 tätig war. Doch statt wilder Verfolgungsjagden, geschüttelter Cocktails und leicht bekleideter Mädchen beschränken sich Jaimes Agenten-Abenteuer in Marias Trilogie, deren letzter Band "Gift und Schatten und Abschied" nun gerade auf Deutsch erschienen ist, weitgehend auf Gespräche und Gedanken zu den großen Fragen der menschlichen Existenz. Es geht hier – wie in jedem Roman des spanischen Literaturstars - um die Erforschung einer als Dilemma begriffenen Conditio humana. Und damit erneut um zentrale Themen wie Liebe und Tod, Wahrheit und Verrat. Und im dritten Teil vor allem: um das sogenannte "Gift" der Gewalt.
    Dazu gibt es gleich zu Anfang des Bandes eine entscheidende Initiationsszene, in der Jaime und sein Chef Tupra spätnachts beim Männergespräch zusammensitzen. Jaime ist wütend auf seinen Geheimdienst-Chef, weil der im zweiten Teil der Trilogie einen spanischen Botschaftsmitarbeiter in einer Londoner Diskothek scheinbar willkürlich fast zu Tode geprügelt hat. Nun verlangt er eine entschuldigende Erklärung von seinem Vorgesetzten. Doch Tupra wiegelt ab und wirft Jaime seinerseits zivilisatorische Verweichlichung vor:

    Die Leute schlagen sich heute schon an die Brust, wenn man einer Pflanze etwas zuleide tut, ganz zu schweigen von einem Tier," klagte Tupra. (...) Er stellte den Fernseher und den DVD-Spieler an und legte eine DVD ein. (...) "Ich werde dir die Videos zeigen, von denen ich dir erzählt habe, du wirst lernen, und es wird gut für dich sein, sie zu sehen. (...) Was du jetzt sehen wirst, ist geheim. Sprich nie davon und erwähne es nie, nicht einmal mir gegenüber. Es sind Aufnahmen, die wir aufbewahren für den Fall, dass sie eines Tages gebraucht werden. (...) Damit drückte Tupra den Startknopf auf der Fernbedienung. Und was ich nun sah, sollte man nicht erzählen, und ich darf es nur stückweise tun. (...) Während ich schaute und ahnte und sah, drang ein Gift in mich ein und wenn ich dieses Wort 'Gift' benutze, dann nicht leichthin und nicht rein metaphorisch, weil etwas in mein Wissen einsickerte, das nie zuvor dort gewesen war und bei mir augenblicklich das Gefühl erzeugte, schrittweise zu erkranken.

    Die Bürde eines grausigen Geheimnisses belastet die Helden und Heldinnen von Javier Marias oft. In "Mein Herz so weiß" trieb die schaurige Entdeckung, dass der zukünftige Bräutigam ein Frauenmörder war, eine junge Frau in den Selbstmord. In "Morgen an der Schlacht denk an mich" wurde eine heimliche Affäre für den Helden Victor zum obsessiven Albtraum, weil er niemandem anzuvertrauen wagte, dass seine geheime Geliebte ausgerechnet beim Seitensprung mit ihm gestorben war. Und auch die geheimen Videoaufnahmen, die der Spionage-Chef Tupra seinem Spezialagenten Jaime Deza nun im dritten Teil von "Dein Gesicht morgen" zur charakterlichen Abhärtung vorführt, entwickeln in dessen Kopf eine fatale Dynamik. Denn die Bilder zeigen so unvorstellbar grausame Folterszenen, dass Jaime sie nicht mehr vergessen kann – und sie ihn fortan verfolgen wie Dämonen.

    Jaime isst zwar keinen sündigen Apfel wie Adam und Eva in der Bibelgeschichte. Doch auch er erleidet mit Tupras Video-Unterweisung bei Marias einen nachhaltigen Unschuldsverlust durch bitterste Erkenntnis. Das ist die Erkenntnis, wie fragil das westlich-humanistische Ideal eines friedlichen Zusammenlebens doch in Wirklichkeit ist – und wie verführbar der Mensch für schlimmste Verbrechen. Oder, wie Tupra es höhnisch auf den Punkt bringt:

    Du hast jetzt Dinge gesehen, die du vorher nicht gesehen hast und, wie ich hoffe, auch nicht wieder sehen wirst. Sag mir jetzt: Warum kann man nicht einfach herumprügeln und töten? Deiner Meinung nach. Du hast gesehen, wie sehr man das überall tut und mit welcher Sorglosigkeit bisweilen. Erklär mir also, warum man nicht kann. (...) Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, ich war noch immer ziemlich mitgenommen, ich war noch immer bestürzt und erschüttert. Aber dann entschlüpfte mir doch ein Satz, fast ungewollt, jedenfalls ohne nachgedacht zu haben, als wollte ich schlichtweg nicht stumm bleiben: "Weil so niemand leben könnte," sagte ich.

    Wohlgemerkt: Wir sind an dieser Stelle des Romans bereits bei Seite 226 angelangt. Über zweihundert Seiten lang ist in "Gift, Schatten und Abschied" noch nicht mehr passiert, als dass sich zwei Männer spät nachts unterhalten. Sie sprechen über Gewalt, über die ehemaligen Hollywood-Busenwunder Sophia Loren und Jane Mansfield und über krankhafte Ruhmsucht. Und daneben macht Jaime sich auch noch sonst allerlei Gedanken: über einen One-Night-Stand mit einer jüngeren Agenten-Kollegin. Über deren Vater, der Spielschulden hat. Und über seine eigene Situation als Exilspanier in London, der getrennt von Frau und Kindern lebt.

    Diese sprunghaften und tatsächlich oft langatmigen Gedankenprotokolle des Helden stellen zweifellos eine Geduldsprobe für den Leser dar, bevor die Handlung ungefähr ab der Hälfte des Romans endlich an Fahrt gewinnt. Denn längst nicht jeder Gedanke Jaimes ist ein Geistesblitz. Und so manche Grübelei wirkt unnötig in die Länge gezogen und allzu bedeutungsschwanger aufgeladen. Und doch ist die Handlungsarmut zugunsten einer detaillierten Innenschau – wie schon in den beiden Vorgängerbänden – von Javier Marias durchaus beabsichtigt. Oder anders gesagt: Das entscheidende Geschehen dieses Romans spielt sich nicht in der Außenwelt, sondern im Kopf des Erzählers ab.

    "Pensiamento literario" hat der spanische Autor selbst einmal sein Erzählverfahren genannt – auf Deutsch übersetzt: "Literarisches Nachdenken". Und das hat wie schon beim englischen Schriftsteller Laurence Sterne aus dem 18. Jahrhundert, den Marias bezeichnenderweise preiswürdig ins Spanische übersetzt hat, Auswirkungen auf das Verhältnis von erzählter Zeit zur Erzählzeit in "Dein Gesicht morgen". Wie schon in Sternes berühmtesten Roman "Tristam Shandy", wo allein die ersten beiden von insgesamt neun Bänden nur von der Zeugung des Helden handeln, regiert auch bei Marias die Prämisse der gewollten Abschweifung. Ständig wird die Chronologie durch neue Reflexionen Jaimes unterbrochen. Was die Beschreibung von Ereignissen, die manchmal nur Minuten dauern, seitenlang auswalzt. Die erzählte Zeit wird dabei so zerdehnt, dass sie im Roman stellenweise geradezu stillzustehen scheint. Und das ist insbesondere für Leser, die gradlinig erzählte Geschichten mögen, gewöhnungsbedürftig. Wird aber mitunter vor allem dann amüsant, wenn Jaime als kulturkritisches Sprachrohr seines Schöpfers auftritt. Etwa dort, wo er noch mal das Prügel-Opfer seines Chefs Tupra in der spanischen Botschaft besucht. Und dabei unverhofft in eine merkwürdige Hip-Hop-Darbietung hineinplatzt. Der verprügelte Attaché namens Rafita de la Garza ist nämlich privat ein ambitionierter Nachwuchs-Rapper und trägt nun gerade einem berühmten Literaturprofessor seine neuesten Rap-Verse vor:

    "Sie werden sehen, Professor, das hier gefällt Ihnen bestimmt. Los geht's." Da sah ich durch die halboffene Tür, wie Rafita de la Garza mit lächerlichen Bewegungen die Hände und Arme schüttelte wie ein Rapper, er vollführte mehr oder weniger wellenförmige Armbewegungen, die als die zornigen Gesten eines Schwarzen aus dem Armenviertel durchgehen sollten. (...) "Ich mach dich zu Marionette – du bläst mir die Klarinette", so begann er mit einem derartigen Reim -, (...) Ch-ju, ju-chu" "Basta!" Der überaus bedeutende Professor Rico musterte Rafita mit starrem Blick. (...) "Bist du nicht bei Trost, De la Garza, oder was sind das für Grillen? Glaubst du, ich könnte daran interessiert sein, diese Aneinanderreihung von Torheiten zu hören, diese" – er zögerte – "Tam-Tam-erei, mit der du mich da überschüttest? Müll ist das. Ganz einfach Pein." Das waren alte Wörter, oder hat sich der allgemeine Wortschatz der Spanier schon auf so wenig reduziert, dass einem alle alt vorkommen. "Grillen", "Torheiten", "Pein". Ich war froh festzustellen, dass ich nicht der einzige war, der diese Ausdrücke gebrauchte.

    Wie viele spanische Schriftsteller betätigt sich auch Javier Marias regelmäßig als Zeitungskolumnist. Und er nutzt die Freiheit seiner Methode des "literarischen Nachdenkens" nun in solchen Szenen, um sich mittels seines alter Egos Jaime über den seiner Meinung nach bedauernswerten Zustand der spanischen Gegenwartsgesellschaft zu beklagen. Nicht nur über den angeblich miserablen Bildungsgrad und die schlampige Sprache seiner Landsleute spottet Marias' Erzähler in "Gift und Schatten und Abschied" gleich mehrfach. Auch gegen Mobiltelefone, die er "Überwachungsinstrumente" nennt, zieht er zu Felde. Das Prado-Museum in Madrid werde geistlos geführt "wie ein Supermarkt." Und vor allem die exhibitionistische Klatschsucht heutiger Medienkonsumenten erzürnt Jaime alias Marais, die er als infantil und "absolut schamlos" aburteilt.

    Diese radikal subjektive Sichtweise, die in "Dein Gesicht morgen" vorherrscht, impliziert aber auch, dass Jaime alles andere als ein vertrauenswürdiger Chronist seiner Geschichte ist. Nicht umsonst besitzt er im Roman eine Vielzahl von Rufnamen. Mal nennt sein Chef Tupra ihn wie den Shakespeare-Intriganten "Jago", mal "Jack", "Jacques" oder "Jacobo." Jaime ist ein Mann mit Masken. Und nichts garantiert dem Leser letztlich, dass das, was dieser moderne Jago-Spion berichtet, auch der Wahrheit entspricht. Einiges könnte gelogen, anderes nur eingebildet sein. Ein Verdacht, der umso mehr erhärtet, als Jaime in der Mitte des Buches endlich von den Schatten seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird – und plötzlich das, was sich bis dahin nur in seinem Kopf abgespielt hat, seinen unheilvollen Widerhall in der Wirklichkeit findet.

    Jaime beschließt an dieser Stelle, für zwei Wochen nach Madrid zu reisen, um seine Ehefrau Luisa und seine beiden Kinder zu besuchen, die er über ein Jahr lang nicht mehr gesehen hat. Ein Wiedersehen, das allerdings völlig anders verläuft, als er es sich vorgestellt hat. Denn nicht genug, dass Luisa keineswegs erfreut über den lange verschollenen Heimkehrer ist. Bei der ersten Begegnung der Eheleute registriert Jaime zudem verblüfft, dass Luisa ein blaues Auge hat. Also offensichtlich von jemandem geschlagen wurde. Und er ahnt sofort, dass diese Verletzung mit einem neuen Liebhaber seiner Frau zusammenhängt:

    "Was hast du denn da?", fragte ich Luisa. "lass mal sehen. Was haben sie mit dir gemacht? Wer war das?" (...) "Was redest du denn da? Niemand hat mir etwas getan. Ich habe mich an der Garagentür gestoßen." (...) Aber wie gut wusste Tupra, dass Garagentüren fast immer eine Ausrede sind. Und dank ihm verstärkte sich in mir die Überzeugung, dass Luisa log. Sie verfügte nicht über die Fantasie, die aus Gewohnheit entsteht, und so hatte sie ein Versatzstück verwendet wie jeder unerfahrene Schwindler. "Erzähl mir keine Märchen, Luisa", sagte ich. (...) "Die Geschichte mit der Garage hat so einen Bart, na klar, die Türen rebellieren und strecken alle möglichen Leute nieder. (...) Ich hoffe, es war nicht irgendein Typ, mit dem du ausgehst, sonst wären das ja ziemlich unangenehme Aussichten für uns."

    Das "Gift" der Gewalt, das Jaime durch Tupras Video-Vorführung zu Beginn des Romans verabreicht wurde, beginnt nun zu wirken. Und entsprechend reichen bereits das blaue Auge Luisas und dazu noch einige vage Negativkommentare ihrer Schwester Cristina aus, damit Marias Erzähler sich sofort das Schlimmste ausmalt. Der eifersüchtige Jaime zieht alarmiert Erkundigungen über den neuen Liebhaber seiner Frau ein - ein Maler und Kopist namens Custardoy. Und mit jeder weiteren Information, mit jedem neuen Gerücht erscheint ihm der Nebenbuhler monströser zu werden, bis er in ihm nicht nur einen lotterhaften Frauenhelden und Schläger erkennt, sondern auch eine lebensgefährliche Bedrohung für seine gesamte Familie. Von daher ist Jaime schon bald fest überzeugt davon, dass er Custardoy um jeden Preis aus dem Weg räumen muss, ohne ihn vorher überhaupt einmal persönlich gesprochen zu haben:

    Ich hatte im Rahmen meiner Einschätzung der Lage in meinem Gedanken längst entschieden, dass dieser Mann ein Betrüger war, ein korrupter Mensch. (...) Ich musste Luisa retten, ohne dass sie etwas von meinem Eingreifen mitbekam. (...) Bei Einbruch der Dunkelheit rief ich von meinem Hotelzimmer aus Tupra an. (...) "Ich muss hier in Madrid eine Angelegenheit regeln, Bertie. Ich wüsste gerne, was du von der Sache hälst. (...) "Look Jack, just deal with him", sagte Tupra, "Just make sure he's out of the picture." So lauteten auf Englisch seine Worte, aber für mich waren diese Worte zu uneindeutig (...); hätte er gesagt: Just get rid of him (...), wäre das deutlicher gewesen. "Werd' ihn los" hätte das bedeutet. (...) Doch Sprache ist schwierig, wenn man nicht weiß, woran man sich halten soll. (...) Es wird wohl nicht viele Leute auf der Welt geben, die offen sagen: Kill him.

    Wie ist es möglich, dass ausgerechnet jemand wie Jaime, der sich noch 220 Seiten vorher Tupra gegenüber vehement gegen jede Form von Gewalt ausgesprochen hatte, an dieser Stelle telefonisch um einen möglichst klaren Killer-Auftrag bittet? Marias Romantrilogie erzählt von einer ebenso beunruhigenden wie weitreichenden Verführung, die er sinnträchtig mit den Gräueln des spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs verknüpft. Denn auch Jaimes Vater, ein ehemaliger Franco-Gegner, der viel Ähnlichkeit mit Julian Marias hat, wurde einst ausgerechnet von seinem besten Freund an die Falangisten verraten. Und Jaimes Gönner in Oxford, Sir Peter Wheeler, der offenkundig dem 2006 verstorbenen Hispanisten Sir Peter Russell nachempfunden ist, weiß ebenfalls nur zu gut, wie tragischerweise manchmal ausgerechnet die Menschen die schlimmsten Verbrechen begehen, die eigentlich die besten Absichten haben. Wheelers Frau Valerie nahm sich einst vor lauter Schuldgefühlen das Leben, nachdem sie aus Unachtsamkeit im zweiten Weltkrieg die Familie einer österreichischen Kinderfreundin bei den Nazis denunziert hatte.

    Wie schon in Marias' Vorgängerromanen birgt jedes Erzählen also auch in "Dein Gesicht morgen" stets die Gefahr der Verfälschung und des Verrats. Und in Jaimes Kopf weckt der Anblick von Luisas Veilchen und die fremden Gerüchte über ihren neuen Liebhaber jene Schreckensbilder der Gewalt, die er vorher auf Video gesehen hat, sodass Marias Erzähler dem Wahn verfällt, gar nicht anders handeln zu können, als Custardoy schließlich mit vorgehaltener Pistole aufzulauern. Und spätestens an dieser Stelle hat man als Leser wieder die beschwörende und zunächst paradox anmutende Warnung des Anfangs im Ohr, mit dem die Trilogie im ersten Band beginnt:

    Man sollte niemals etwas erzählen noch Angaben machen oder Geschichten beisteuern (...) Nein, ich sollte nichts erzählen oder hören, denn es wird nie in meiner Macht liegen, dass es nicht wiederholt und gegen mich gewendet wird.

    Die faschistischen Schrecken des 20. Jahrhunderts, so lautet die düstere Botschaft nach über 1600 Seiten von "Dein Gesicht morgen", mögen vergangen sein. Doch ihre Schreckens-Gespenster sind weiterhin lebendig. Das ist zwar keine originelle Erkenntnis, aber eine, die einen angesichts einer plapperigen Mediengesellschaft, in der das Ausplaudern von Gerüchten und Geheimnissen schon fast zum guten Ton gehört, nachdenklich machen kann.

    Acht Jahre lang hat Javier Marias an seinem Opus Magnum geschrieben, in dem er nicht nur seinen Vater Julian Marias und seinen Freund Sir Peter Russell noch mal literarisch zu Leben erweckt hat, sondern auch einige alte Figuren und Motive wieder verwendet.

    Schon im Campus-Roman "Alle Seelen" von 1989 stand ein spanischer Übersetzer im Mittelpunkt, der von seiner in Madrid lebenden Ehefrau Luisa getrennt war. Der dort erwähnte Professor Toby Rylands taucht in der Trilogie nun ebenfalls wieder auf. Und auch Juan Ranz aus "Mein Herz so weiß" hat eine Nebenrolle. Marias hat sie alle noch mal Dein Gesicht morgen versammelt, weil er mit seinem Romanprojekt etwas sehr Kühnes gewagt hat, das offenbar seinen Abschied als Schriftsteller markieren soll. (Zumindest hat er angekündigt, keinen weiteren Roman mehr schreiben zu wollen.)

    Marias hat mit "Dein Gesicht morgen" versucht, den Geheimdienst-Roman als philosophischen Reflexionsroman neu zu erfinden, dem bei ihm darum gerade das fehlt, was das Genre sonst kennzeichnet: viel Action und viel Rasanz. Und das Problem an diesem kühnen Versuch ist nicht, dass er die Handlung zugunsten eines stream of consciousness radikal minimiert. Das Problem ist vielmehr Marias' schriftstellerischer Übereifer. Es sind einfach viel zu viele, sich raunend wiederholende Gedanken, die sich sein Agent Jaime macht. Und es dauert darum zu lange – nämlich bis zur Mitte des dritten Bandes - bis dessen Dämonen im Kopf endlich den Weg hinaus in die Welt finden. Die Wandlung Jaimes vom Gewaltverächter zum Gewalttäter, der Jagd auf seinen Nebenbuhler Custardoy macht, ist dann allerdings ungemein spannend zu lesen. Das Aufspüren des Konkurrenten, das Hinterherschnüffeln und schließlich die Untat. In diesen Passagen blitzt sie wieder auf: Marias' unvergleichliche erzählerische Meisterschaft. Und dann wünscht man sich, dass er vielleicht doch noch mal einen neuen Roman schreibt.


    Javier Marias: "Dein Gesicht morgen". Band 3: Gift und Schatten und Abschied. Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr, Verlag Klett Cotta, Stuttgart 2010, 728 Seiten, 29.90 Euro.