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Lars Gustafsson
Philosophische Gedanken über den Tod

"Ich muss sagen, ich habe nie meine Sterblichkeit bezweifelt", sagte einst der schwedische Philosoph und Schriftsteller Lars Gustafsson über sich selbst. Er starb am 3. April dieses Jahres in Stockholm kurz vor seinem 80. Geburtstag. Der Tod spielte in seinen Romanen stets eine zentrale Rolle. So auch in seinem letzten Buch "Doktor Wassers Rezept".

Von Michael Opitz | 17.05.2016
    Der verstorbene schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson, aufgenommen am 03.03.2012 in Mainz.
    Am 17. Mai 2016 wäre der schwedische Philosoph Lars Gustafsson 80 Jahre alt geworden. (picture alliance / Erwin Elsner)
    "Es kommt vor, dass ich denke, ich habe mein Leben damit verbracht, Buchstaben zu ordnen und wieder zu ordnen."
    Das Ergebnis dieser Ordnungsversuche kann sich sehen lassen – an die 80 Bücher hat Lars Gustafsson geschrieben. Neben Prosa sind immer wieder Gedichte entstanden und in den letzten Jahren hat Lars Gustafsson häufiger zum Pinsel und zur Palette gegriffen. Auch das Mischen der Farben hatte für ihn etwas Philosophisches.
    Lars Gustafsson war ein philosophischer Dichter. Er wurde 1979 mit einer Arbeit über "Sprache und Lüge" habilitiert. Die Suche nach der Wahrheit ist ein zentrales Problem seiner Figuren, die nach dem Sinn des Lebens fragen, und die sich von daher mit dem Tod befassen müssen.
    "Ich muss sagen, ich habe nie meine Sterblichkeit bezweifelt. Elias Canetti war lustig. Er sagte ja: Andere Menschen können sterben, aber ich werde nicht sterben. Das ist undenkbar, dass Elias Canetti nicht existiert. Er war ja ein schlauer Herr und man kann das sehr gut interpretieren. In einem Sinn kann niemand sterben. Also wir sind eingeschlossen in unsere Erfahrungswelt und es gibt kein Fenster, kein Loch, keinen Riss, wo wir herausgucken können. Elias Canetti kann nicht sterben, wir können nicht sterben. Das Sterben gehört nicht zu dem Leben."
    Gedanken über den Tod
    Der Tod mag ein Irrtum sein, den man aus dem Leben verbannen möchte, doch was immer man auch anstellt, so irrational der Tod auch erscheint, es bleibt nichts anderes übrig, als ihn rational zu akzeptieren. Lars Gustafssons Gedanken kreisen auch in seinem letzten Roman "Doktor Wassers Rezept" um den Tod.
    Als das Buch 2015 in Schweden erschien, war sein Autor 79 Jahre alt und ein Jahr jünger, als die im Mittelpunkt stehende Figur, die gerade 80 geworden ist, als die Handlung einsetzt. Dass er achtzig wurde, dass verdankt Doktor Wasser einem Rezept, nach dem er gelebt hat. Er nahm an Preisausschreiben teil. Wo immer er Rätselaufgaben fand, bei denen er Preise gewinnen konnte, war er dabei. Er löste, was es zu enträtseln gab, verschickte die richtige Lösung und gewann. Das klingt nach einer absurden Lebensphilosophie. Und einen seltsamen Eindruck macht dieser Doktor Wasser durchaus, der sich für einen Gewinnertyp hält. Der Roman wirft die Frage auf, ob ein gelungenes Leben einer mathematischen Formel gleicht: Ist es aufgegangen, wenn so viele wie nur mögliche Siege errungen wurden?
    "Also Hegel glaubte ja, dass die Weltgeschichte einen Sinn hat. Viele religiöse Menschen glauben sicher, dass das Universum einen Sinn hat. Ich bin geneigt zu sagen, dass diese ausgedehnten Sinnbegriffe sinnlos sind. In seiner Anschauung über den Sinn des Lebens hat, glaube ich, Friedrich Nietzsche vollkommen recht gehabt: den Sinn geben wir. Den Sinn unseres Lebens müssen wir finden."
    Eine ungewöhnliche Art, das Rätsel des Lebens zu lösen
    Auch das eigene Leben hat Doktor Wasser alias Kent Andersson als ein Rätsel verstanden und es auf eine ungewöhnliche Art zu lösen versucht. Als er Ende der neunzehnhundertfünfziger Jahre in einem Wald einen Toten entdeckte, nahm er die Identität dieses aus der DDR stammenden Mannes an, der bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war. So wurde aus dem Schweden Bo Kent Andersson, der zunächst Lehrling in einer Reifenfabrik war und später als Fensterputzer arbeitete, der Arzt Doktor Kurth Wasser. Kent wuchs in ein anderes Leben hinein. Er wurde ein Anderer und in der Rolle dieses Anderen wird er immer mehr er selbst.
    "Ich entschied mich also dafür, ein anderer zu werden, die Eltern und die Erinnerungen und die wenigen Freunde, die ich von zu Hause hatte, aufzugeben. Ich entschied mich dafür, nicht weil ich mir besonders viel von diesem anderen versprach, sondern weil die Verführung, die von der Idee eines eigenen freien Willens ausging, unwiderstehlich war." (S. 93f.)
    Die aus freiem Willen getroffene Entscheidung, die Identität zu wechseln, gestattet Bo Andersson oder Doktor Wasser, ungeheure Freiheiten. Kent wird als Doktor Wasser zu einem Womanizer, der als Eroberer den Vergleich mit Don Juan nicht fürchten muss. Gustafsson wollte einen philosophischen und zugleich einen erotischen Roman schreiben. Doktor Wasser hat als der Andere keine moralischen Skrupel, wenn er die Frauen reihenweise erobert. Er hat die Wahl. Wie frei man in seiner Wahl ist, diese Frage hat Lars Gustafsson bereits in seinem Roman "Frau Sorgedahls schöne weiße Arme" von 2009 thematisiert: In welchen Bahnen verläuft das Leben und können wir eventuell ausbrechen, wenn es sich in die falsche Richtung bewegt?
    "Wir haben keine Ahnung wo wir uns befinden – das Weltall ist im Großen und Ganzen unerforscht und unbegriffen. Und wir haben keine Ahnung wer wir sind. Offenbar befinden wir uns irgendwo in einer biologischen Evolution. Aber was es eigentlich bedeutet, das wissen wir nicht. Was folgt daraus, dass wir keine Ahnung haben, wo wir sind und wer wir sind? Daraus folgt eine Art Freiheit."
    Zwischen Triumph und Verlust
    Als Doktor Wasser lässt sich Kent Andersson auch deshalb auf die unzähligen Amouren ein, weil er sich erst richtig spürt, wenn er eine Frau verführt. Dann weiß er, dass es ihn gibt. Wer allerdings derjenige ist, dem es immer wieder gelingt, eine Frau zu erobern, das weiß er weniger genau. Er braucht die Erfolge bei den Frauen und doch verliert er bei jedem Sieg, den er erringt, ein weiteres Stück seiner selbst.
    "Vielleicht habe ich auch das getan und zu Ende gebracht, was er hätte tun sollen? Wetteifere ich mit ihm? Und was wurde aus dem, der an seine Stelle trat? Sein Leben war ja verschwunden. Ich habe es getauscht. Man könnte also sagen, dass ich der bin, der ich bin. Aber ich bin auch der, der ich nicht bin. Die Erfahrung sagt mir, dass es mir nicht sehr gut tut, über diese Paradoxa nachzugrübeln." (S. 110)
    Doktor Wasser geht schließlich so in seiner Rolle auf, dass er einen anderen Arzt, der wie er das Leben eines anderen geführt hat, den Behörden als Betrüger ausliefert. Zu dieser Zeit führt Doktor Wasser schon ein so eigenständiges Leben, dass er dieses Leben als sein richtiges Leben ansieht und von daher ohne Skrupel ist. Natürlich ist er im Vergleich zu dem Betrüger ein Anderer. Zwar hat auch er ein falsches Spiel gespielt, aber er ist doch richtig und wahrhaftig im falschen Leben angekommen. Wer wollte daran zweifeln?
    Leicht daher kommend und doch stets nachdenklich
    Auch in seinem letzten Buch "Doktor Wasser Rezept" hat sich Lars Gustafsson intensiv mit dem Tod auseinander gesetzt. Als Autor wird er mit seinen amüsanten, eher leicht daherkommenden und doch stets nachdenklich stimmenden Romanen weit über seinen Tod hinaus in Erinnerung bleiben.
    "Tod zu sein, ist keine meiner Eigenschaften. Wenn ich tot bin, habe ich keine Eigenschaften mehr. Mein Tod ist eine Eigenschaft der Welt. Ich bin nicht mehr Teil ihres Zusammenhangs."
    Lars Gustafsson: "Doktor Wassers Rezept". Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Roman. Hanser Verlag. München 2016, 143 Seiten. 17,90 Euro.