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"Lasse mir eine Dauerwelle machen"

Anfang Mai war es genau 60 Jahre her, seit der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation Deutschlands geendet hatte. Die Sowjetunion, deren Bevölkerung unvorstellbares Leid hatte durchmachen müssen, war eine der Siegernationen. - Wladimir Gelfand erlebte den deutschen Zusammenbruch als junger Offizier unweit von Berlin und gehörte dann zum ersten Kontingent von Besatzungssoldaten in der damaligen sowjetisch besetzten Zone. Über diese Zeit machte er sich fleißig Privatnotizen, die aber erst jetzt, nach seinem Tod, gefunden und veröffentlicht worden sind: "Deutschland-Tagebuch 1945 - 1946", Aufzeichnungen eines Rotarmisten". Suzanne Plog-Bontemps hat sie gelesen und lässt Gelfand zunächst selbst zu Wort kommen.

Von Suzanne Plog-Bontemps | 20.06.2005
    " Jetzt bin ich in dem Örtchen Rüdersdorf, nicht weit von unserem Lager. Lasse mir, rein interessehalber, eine Dauerwelle machen, die sechs Monate halten soll. Zwei Stunden werde ich rundum bearbeitet. Eine junge, hübsche Deutsche kümmert sich besonders emsig um meine Haare. Mit der sollte ich mich anfreunden und mir an ihrer Seite die Zeit vertreiben... "
    …vertraut der 22jährige Rotarmist Wladimir Gelfand am 12. Juli 1945, zwei Monate nach Kriegsende, seinem Tagebuch an. Als Stabsoffizier erlebt er die ersten Friedenswochen in verschiedenen Einsätzen in und um Berlin. Der Alptraum der letzten Kriegsmonate, der Sturm auf Berlin, der erbitterte Häuserkampf, Kampfhandlungen, in denen Zehntausende sowjetische Soldaten gefallen sind, scheinen den jungen, selbstverliebten Unterleutnant Gelfand nicht mehr zu drücken. Neugierig und gelassen, naiv und nur auf sich selbst konzentriert ist Gelfands Blick auf das fremde Land und seine Bewohner. Trümmer, Ruinen, marodierende Rotarmisten, verängstigte, flüchtende Frauen, Kinder, Alte - diese Bilder und Eindrücke des Schreckens nimmt Wladimir Gelfand nicht wahr, zumindest notiert hat er sie nicht. Ebenso fehlen Analysen und Kommentare wie sie sonst bei Chronisten üblich sind. In Gelfands Deutschlandtagebuch gibt es keine Gesänge über Heldentaten, kein Trommelwirbel ist zu hören, kein Siegestaumel zu verspüren. Der Untergang Nazi-Deutschlands ist für ihn gerecht, die Deutschen haben sich die Folgen des Krieges selbst zuzuschreiben. Aber der Leutnant empfindet keine Rachegelüste, schon gar nicht schwelgt er in Vergeltungsphantasien. Nur einmal ist der Rotarmist dem Gerücht von einem deutschen Frauenbataillon und angeblich gepfählten Soldatinnen aufgesessen.

    Seine Sicht auf das besiegte Deutschland und die Deutschen überrascht, denn der ukrainische Jude Wladimir Gelfand weiß zu diesem Zeitpunkt bereits, dass viele Angehörige seines Vaters in deutschen Gaswagen umgebracht worden sind. Gelfand ist Kommunist, Parteimitglied, seit Mai 1942 hat für sein Vaterland gekämpft, bis auf die allerletzten Monate immer an vorderster Front. Und die ganze Zeit hat Wladimir Gelfand ein Tagebuch geführt, auch als er im Januar 1945 an die Front abkommandiert wird. Seine literarische Hinterlassenschaft füllt mehrere Koffer. Ein Teil dieser Aufzeichnungen Gelfands sind jetzt als "Deutschlandtagebuch 1945 bis 1946" in einer gut dokumentierten Ausgabe erschienen. Geldfands Sohn Vitali, der 1995 nach Deutschland ausgewandert ist, hat die Sammlung mitgebracht. Gelfands Aufzeichnungen beginnen im Januar 1945. Von Anfang an wird deutlich, dass Wladimir Gelfand, der in seiner Freizeit Gedichte schreibt und von einer Karriere als Schriftsteller träumt, immer schlechter mit dem Soldatenleben zurecht kommt. Er berichtet von Feindseligkeit und Missgunst in der Kompanie, von betrunkenen, prügelnden Vorgesetzen, von sinnlosem Vandalismus.

    " Niemand verbietet uns, den Deutschen das zu nehmen und zu zerstören, was sie zuvor bei uns geraubt haben. Ich bin überaus zufrieden. Nur der sinnlose Radau von Hauptmann Schikin und insbesondere Karpienko gefällt mir nicht. Gestern zum Beispiel hat Rybkin eine Büste von Schiller zerschlagen und hätte wohl auch Goethe vernichtet, wenn ich ihn diesem Narren nicht aus den Händen gerissen, mit Lappen umwickelt und weggepackt hätte. Genies können nicht mit Barbaren gleichgesetzt werden, und ihr Andenken zu zerstören ist für einen zivilisierten Menschen eine große Sünde und eine Schande. - 30. Januar 1945. "

    Die verschiedenen Tätigkeiten als Besatzungsoffizier in Berlin füllen den jungen, neugierigen Ukrainer nicht aus. Ständig und bewusst verstößt er gegen Verordnungen und Verbote. In diesem Teil der Aufzeichnungen spricht nicht der Militär, sondern der Zivilist Gelfand, der sich im einstigen Feindesland aufmacht, eine neue Welt und dabei sich selbst zu entdecken. Am 9. August 1945 notiert er:

    " Es ist uns verboten, mit den Deutschen zu sprechen, bei ihnen zu übernachten, einzukaufen... Das kann doch nicht sein. Wir sind Menschen, können nicht in einem Käfig sitzen… Was ich will? Freiheit. Die Freiheit zu leben, zu denken, zu arbeiten, das Leben zu genießen. "

    Und wie er seinem Tagebuch anvertraut, gelingt es dem hübschen Rotarmisten mit dem lockigen Haar sein Leben zu genießen. Fast schon arglos und ohne sich rückzuversichern wirft er sich in diese für ihn neue Welt. Er lernt deutsch, liest viel, besucht Theater, geht ins Kino, der im Stalinismus aufgewachsene Sowjetbürger vergleicht Neues mit Altbekanntem, Deutsche und Russen. Gerade diese kleinen Beobachtungen gehören zu den besten Passagen von Gelfands Aufzeichnungen. Schon in den ersten Tagen erwirbt er ein Fahrrad und eine Kamera und zieht dann los, um die neue Welt um ihn herum zu dokumentieren, vor allem aber, um sich selbst darin abzulichten: Gelfand mit Sonnenbrille, Gelfand mit Zylinder, Gelfand im modischen Zweireiher mit Hut, Gelfand in der Kleinstadt Caputh, Gelfand vor dem Brandenburger Tor, vor dem Reichstag, am Gendarmenmarkt, Gelfand in Wolgast, in Stettin. Landschaften, Dörfer, Städte - gierig saugt er alles in sich hinein. Der fleißige Chronist, der ohne weiteres bekennt: "Ich bin wirklich ein selbstverliebter Typ", er ist jetzt vor allem mit seiner Wirkung auf andere beschäftigt, ist besorgt um sein Aussehen und seine Kleidung. Er will beim weiblichen Geschlecht Eindruck machen, will lieben und geliebt werden. Zahlreiche deutsche Mädchen erliegen dem Charme des sowjetischen Offiziers, der sie mit Fotos und Bonbons verwöhnt. Gelfands Aufzeichnungen waren sicher nie für eine Veröffentlichung bestimmt, liefern aber gerade deshalb unverstellte Eindrücke aus Deutschland und von seinen Bewohnern in den ersten Monaten nach Kriegsende. Aus russischer Sicht beschrieben, in der Haltung eines aktiv teilnehmenden und mit seiner deutschen Umgebung kommunizierenden Zeitgenossen hat man dies bisher so noch nicht nachlesen können.

    Suzanne Plog-Bontemps besprach: Wladimir Gelfand: "Deutschland-Tagebuch 1945 - 1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten", erschienen im Aufbau-Verlag, Berlin. 357 Seiten zum Preis von 22,90 Euro.