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Lateinamerika
"Linksruck" unter der Lupe

In den letzten Jahren kamen in Lateinamerika immer mehr Parteien des linken Spektrums an die Macht. Ihre Programmatik reicht von sozialistischen Modellen eines Evo Morales in Bolivien bis hin zu einer wirtschaftsfreundlichen Ausprägung in Brasilien. Eine Differenzierung hat jetzt der Lateinamerika-Kenner Dieter Boris mit "Bolívars Erben" geliefert.

Von Ina Rottscheidt | 23.06.2014
    Eine Befürworterin von Evo Morales, Boliviens Präsident
    Eine Befürworterin von Evo Morales, Boliviens Präsident (dpa / Martin Alipaz)
    Seit Monaten gehen in Brasilien die Menschen auf die Straße. Sie protestieren gegen Korruption und Misswirtschaft, die jetzt im Zuge der WM einmal mehr offenbar werden. Kein Einzelfall. Auch andernorts auf dem Kontinent regt sich immer häufiger Protest aus einem Gefühl heraus, dass "die da oben" schon lange nicht mehr die Interessen der "da unten" vertreten.
    "Dass die Betroffenen aus den unteren Schichten, die Armen, die Stimmlosen, die Marginalisierten sich heute mit einem anderen Selbstbewusstsein und einer gewissen Würde ausgestattet sehen, und sie in viel höherem Maße als je zuvor in der Lage sind, als eigenständige politische Subjekte zu handeln."
    Das ist eine der Thesen des Buches "Bolívars Erben" von Dieter Boris. Und das hat vor allem etwas mit dem Scheitern des Neoliberalismus in Lateinamerika zu tun. Jenem Credo der 1980er- und 90er-Jahre von weniger Staat, Deregulierung, Privatisierung und freiem Markt. Dieter Boris weist in seinem Buch nach: Die Rechnung ging nicht auf.
    "In den vergangenen wenigen Dekaden hat die Region ein Ansteigen der Armut erlebt, ebenso einen Anstieg der Einkommensungleichheiten und der Kriminalität; die Schaffung von Beschäftigung blieb dürftig; der ökonomische Wachstumsprozess verlief träge; und es gab eine sehr weit gespannte Wahrnehmung, dass die Regierungskorruption zügellos geworden war."
    Linke Politik als Reaktion auf das Scheitern des neoliberalen Konzeptes: Mit dieser These reiht sich Dieter Boris ein in die Meinung zahlreicher renommierter Wissenschaftler wie etwa Nobelpreisträger Joseph Stiglitz.
    Doch gerade in Deutschland werden diese Entwicklungen immer noch überwiegend misstrauisch beäugt. Maßnahmen zur Armutsbekämpfung oder eine Wirtschaftspolitik, die auf Umverteilung abzielt, würden schnell als Populismus abqualifiziert, kritisiert Dieter Boris, manchmal schwinge sogar eine gewisse "Bedrohung" mit.
    "Wenn man bedenkt, dass viele Institute von der Bundesregierung oder öffentlichen Stellen ihre Forschungsgelder bekommen, also ich denke etwa an das Giga-Institut in Hamburg aber auch Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und andere. Das sind alles Institute, die im angeblichen Interesse der Bundesregierung ihre Analysen vornehmen. Und von daher gibt es, wenn es irgendwelche Nationalisierungen von Rohstoffquellen gibt, einen Schrei des Entsetzens, weil das gegen den freien Handel verstößt. Das ist also schon eine gewisse vorurteilsbehaftete, interessenbedingte Ausrichtung, die bei uns doch sehr stark vertreten ist, weil eben auch unabhängige Wissenschaft und unabhängige Medienberichterstattung eher selten vorkommen."
    Auch deshalb hat Dieter Boris sein Buch geschrieben: Um aufzuräumen mit dem Vorurteil von "Linksruck" und "Links-Populismus" in Lateinamerika. Aber auch, um eine differenziertere Perspektive zu geben: Nicht in allen Ländern des Kontinents - wie etwa Honduras, Paraguay und Chile – setzten sich dauerhaft linke Regierungen durch. In einigen Ländern wurde der Präsidentenwechsel durch teils gewaltsame Massenbewegungen erzwungen, wie in Argentinien 2001 oder Ecuador im Jahr 2000.
    Die Präsidenten von Venezuela, Maduro (links), und Nicaragua, Ortega
    Die Präsidenten von Venezuela, Maduro (links), und Nicaragua, Ortega (AFP / Inti Ocon)
    Manche Länder streben "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" an
    Andernorts, wie beispielsweise in Bolivien oder Venezuela, gelangten Linkspolitiker durch reguläre Wahlen an die Macht. Das Spektrum auf dem Kontinent reicht von einem "sozialstaatlich gezügelten Kapitalismus" in Brasilien oder Uruguay bis hin zu grundlegenden Umwälzungen, die einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts anstreben:
    "Die neuen politischen Akzente in Lateinamerika, die hier vorsichtig als Linkstendenzen oder als Linkswende bezeichnet werden, dürfen nicht als kontinentaler Linksruck bzw. gar als vor-revolutionäre Abkehr vom Neoliberalismus missverstanden werden. Nach wie vor werden eine Reihe von Staaten des Subkontinents von rechten oder Mitte-Rechts-Regierungen geführt."
    "Bolívars Erben" ist kein Buch, das sich zum Einstieg in das Thema politischer Entwicklungen in Lateinamerika eignet. Gewisse Kenntnisse und zeitgeschichtliches Wissen über den Kontinent werden vorausgesetzt. Für diesen Leserkreis jedoch ist es ein faktenreiches Buch, das detailliert auf die Entwicklungen in den einzelnen Ländern eingeht und sie analysiert. Und das mit umfangreichem Zahlenmaterial gegen den viel zitierten und oft kritisch betrachteten "Linksruck" an argumentiert. Dabei macht der emeritierte Soziologie-Professor, der auch dem Institut für Marxistische Studien in Frankfurt verbunden war, keinen Hehl aus seiner Sympathie für die linksorientierte Politik auf dem lateinamerikanischen Kontinent:
    "Das schließt aber meines Erachtens nicht aus, dass ich mir einen Blick für Schwächen und Defizite bewahrt habe und das auch in dem Buch zum Ausdruck gebracht habe. Es ist also nicht so, dass ich das kritiklos unterstütze, was da unter dem Signum linker Politik gemacht worden ist."
    Und so ist es dann auch nur folgerichtig, dass Dieter Boris die Vertreter jener neuen Regierungen als Erben keines Geringeren als Simon Bolívars bezeichnet: Jenes Befreiers, der im 19. Jahrhundert die Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Kolonialmächte anführte. Denn auch heute gehe es wieder darum...
    "Die nationalstaatliche Souveränität über Ressourcen, über Politik und Verwaltung wiederzugewinnen. Und insofern kann man auch sagen, mit einem gewissen historischen Verständnis, dass man die Regierungen, die sich als Linksregierungen definieren, in gewisser Hinsicht als Bolívars Erben auffassen kann."
    Dieter Boris: "Bolivars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika"
    PapyRossa-Verlag, 202 Seiten, 14,90 Cent.