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Laurence Sterne - Werksausgabe in drei Bänden
Moral ist, wo man trotzdem lacht

Die Romane, Satiren und Briefe von Laurence Sterne wurden erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt. Mit seinen Klassikern "Tristram Shandy" und "A Sentimental Journey" gilt Sterne als einer der zentralen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts und Begründer einer von Skepsis und Ironie durchdrungenen Empfindsamkeit.

Von Volkmar Mühleis | 17.06.2018
    Buchcover Laurence Sterne - dreibändige Werksausgabe
    In dreibändiger Werkausgabe wird der große Wilde Lawrens Sterne neu erschlossen (Cover: Galiani Verlag / Autorenportrait: picture-alliance / dpa)
    Als Salman Rushdie 2001 in Amsterdam seinen neuen Roman Wut der Presse vorstellte, da meinte er, im Grunde gäbe es zwei Arten von Schriftstellern: solche, die alles umfassend in ihre Bücher zu bringen versuchten – sie gehörten zur Shuffle Everything In-School, nach dem Motto immer nur rein damit – und solche, die ihre Werke ausdünnten bis auf die Essenz dessen, was ihnen überhaupt nur zu sagen wert erschiene. Man möchte an James Joyce versus Samuel Beckett denken: Während der eine über Hunderte von Seiten einen Tag im Leben des Leopold Bloom beschreibt, in seinem Roman Ulysses, feilt der andere an seinen Texten, bis sie Bruchstücke ihrer selbst sind, feinziselierte Gewebe der Sprachkunst. Wo aber befände sich Laurence Sterne nach Rushdies Unterscheidung? Zum einen hat er in Folge einen voluminösen Roman veröffentlicht, "Leben und Ansichten von Tristram Shandy", Gentleman, der sicher unter der Vorstellung immer nur rein damit, Shuffle Everything In, gefasst werden könnte. Zum anderen ist er bewusstes, andauerndes Stückwerk, das nach neun Bänden abbricht, eine Demontage all dessen, was von klassischer Poetik einer stringenten Handlung bis hin zur Identität eines Helden noch in der Aufklärung verlangt wurde. Zwischen 1759 und 1767 erschienen die Bände, und bevor der Versuch unternommen wird, sie in ihrer Vielfalt zu deuten, hier eine erste Kostprobe von der Erzählfreude Laurence Sternes:
    "Mein Vater, der in allen möglichen Büchern flüchtig blätterte, hatte einmal beim Stöbern in den Lithopaedus Senonesis de Partu difficili, herausgegeben von Adrianus Smelvogt, die Entdeckung gemacht, Daß der weiche und nachgiebige Zustand eines Kinderkopfes bei der Geburt, zu welchem Zeitpunkt der Schädelknochen noch keine Nähte aufwiesen, solchermaßen sei, – daß infolge der Kraft, die durch das Pressen der Frau erzeugt werde, und die bei schweren Geburtswehen, im Durchschnitt, einem Gewicht von 470 lotrecht einwirkenden Handelspfunden, zu je 16 Unzen das Pfund, entspräche; – es dahinkommt, daß in 49 von 50 Fällen der besagte Kopf in der Form eines oblongen, konischen Teigklumpens gedrückt und geknetet werde, in der Art etwa, wie ein Pastetenbäcker seinen Teig rollt, um eine Pastete draus zu machen."
    Das Spiel mit den Regeln
    Assoziationen sind Fallgruben für jeden Menschenverstand. Während der Philosoph John Locke zu beweisen suchte, wie Assoziationen den Verstand zu leiten vermögen, machte sich Sterne daran, den Verstand mit Ideen und Abschweifungen zu verführen. Und das im wörtlichen wie übertragenen Sinn, von Anspielungen auf Beischlaf und Masturbation angefangen, bis hin zu weltanschaulichen Gedankenspaziergängen im vergnügten Ton. Ein Ton, der in der Bruchstückhaftigkeit des Ganzen seine Tiefe und Weite offenbart. Nicht nur John Locke war ein wichtiger Widerpart für das Gestaltungsprinzip im Tristram Shandy, auch Robert Burtons Schrift "Anatomie der Melancholie" von 1638. Sterne schreibt gegen den Tod selber an, der ihn durch sein zunehmendes Lungenleiden unheilbar bedroht. Wenn es nichts Neues unter der Sonne gibt, wie Melancholiker in Nachfolge des alttestamentarischen Predigers meinen, dann bleiben nur Zitat und Entlehnung. Sterne übernimmt nicht nur Passagen anderer Schriftsteller, er überträgt die Figur des toten Narren Yorick aus Shakespeares Hamlet in sein Buch, als Pfarrer Yorick, den er offen zu seinem Alter Ego bestimmt, nicht anders wie Tristram Shandy selbst. Denn Sterne legt alle Karten auf den Tisch und mischt sie nach Herzenslust: Als Autor wendet er sich direkt an sein Publikum, schlüpft in die Rollen seiner Protagonisten, erzählt Unmögliches und spricht jeder Regelhaftigkeit Hohn. So handelt sein Roman von Tristram Shandy, der als Ich-Erzähler auftritt, um rückblickend ausführlich seine Zeugung zu schildern; und dann vergehen mehrere Bände, bis er überhaupt geboren wird. Laurence Sterne veranstaltet einen Wirbel, den er genau bemessen dirigiert, mit Gedankenstrichen, freier Groß- und Kleinschreibung und selbst Leerseiten wie leer gelassenen Kapiteln. Kein leichtes Unterfangen für einen Übersetzer, wie bereits der erste in der langen Reihe deutscher Übertragungen, Johann Friedrich Zückert, 1765 vermerkte:
    "Tristrams ganz eigene und abgebrochene Schreibart, da er bald Dinge vorbringt, deren Erläuterung erst in der Folge kommen, bald vom einen zum anderen ohne einigen Zusammenhang schreitet, bald abgebrochene Sätze hat, die, weil sie nicht vollendet worden, dunkel bleiben, bald Provincialworte gebrauchet, die einem Deutschen unbekannt sind und zuweilen neue Worte machet, die sich kaum übersetzen lassen."
    All diese Schwierigkeiten sind in der ersten deutschen Laurence-Sterne-Werkausgabe, die nun von Michael Walter übersetzt und von Wolfgang Hörner verlegt wurde, gut 250 Jahre nach den Anfängen der Übersetzungsgeschichte in eine überaus kohärente, sprachlich fundierte, mit Witz und Kenntnisreichtum gestaltete Form gebracht worden. Sie lässt den Grad der Schwierigkeiten weiterhin erkennen und ist in den Spielräumen deutscher Anverwandlungen weit gefasst, so dass Provincialworte nicht geglättet und Neuschöpfungen umsichtig übertragen wurden. Da ist zu Beginn etwa von Windschiefigkeit die Rede, wo Sterne "obliquity" setzt – das Schiefe, aber ohne Wind –, was sich jedoch im Zusammenhang des Schlusssatzes des neunten und letzten Bandes der Romanreihe erklärt, welcher hier natürlich nicht verraten sein soll.
    Übersetzung treffsicher und eloquent
    Nur soviel: Die Übersetzung ist überaus treffsicher, eloquent und eindrucksvoll durchgearbeitet und im Anhang eingehend kommentiert. Michael Walter baute auf seinen vorigen Übertragungen des Tristram Shandy auf, die seit 1983 in stetiger Vertiefung bei verschiedenen Verlagen erschienen waren. Die Werkausgabe im Berliner Galiani Verlag bot nun die Gelegenheit, mit dieser Konsequenz die belletristischen Schriften Sternes im Ganzen durchzugehen. Seine Predigten – er war Pfarrer von Beruf, unweit von York – blieben außen vor, auch wenn er sie selbst im gleichen Jahr mit den ersten Bänden des Tristram Shandy als Predigten seines Protagonisten und alter egos Pfarrer Yorick veröffentlicht hatte, sie also gleichfalls in den Rahmen des literarischen Projekts gestellt wurden. Möglich, dass der heutigen Werkausgabe eine Ausgabe sämtlicher Werke einmal folgen wird. Nicht zuletzt, da Pfarrer Yorick die Hauptfigur von Sternes zweitem Klassiker ist, der Empfindsamen Reise durch Frankreich und Italien von Mr. Yorick. Dieses Buch ist Sterne in nuce: Er spielt mit der sentimentalischen Literatur seit Samuel Richardsons Romanen der 1740er Jahre und verbindet sie mit dem skeptisch-satirischen Blick seiner Vorbilder Cervantes, Rabelais und Swift. Er treibt es weniger toll als in seinem Experimentalwerk Tristram Shandy, dafür jedoch subtiler, gezielter. Ein Beispiel:
    "Unter allen Brücken, die jemals gebaut wurden, ist, wie die ganze Welt, die über die pont neuf gegangen ist, zugeben muß, sie die vornehmste – die schönste – die großartigste – die strahlendste – die längste – die breiteste, welche auf dem Antlitz dieses aus Erd’ und Wasser gemischten Globus jemals Land und Land miteinander verquicket hat – Hiernach scheint es, als sei der Autor des Fragmentes kein Franzose gewesen."
    Ein Loblied wird angestimmt, fast ins Lächerliche gezogen, um daraufhin Verwirrung zu stiften, wer denn nun voll des Lobes ist, wer übertreibt – ein begeisterter Fremder, Reisender auf der grand tour, ein Engländer womöglich, der sich den Spaß erlaubt, unter Ausschluss des Franzosen nur auf sich selbst zu verweisen, in exzentrischer Liebe für die schönste Brücke von Paris? Auf Anregung von Gotthold Ephraim Lessing wurde A Sentimental Journey – im Englischen eine Neuschöpfung nach dem französischen Wort sentiment für Gefühl – als Eine empfindsame Reise übertragen, im Deutschen ebenfalls ein neuer Begriff, als Ausdruck von zart besaitetem Feingefühl. Das Gefühlvolle verbindet sich bei Sterne nicht nur mit Skepsis und Ironie, der englische Charakter seiner Schriften legt mitunter die Assoziation exzentrische Sehnsucht nahe, eine Steigerung des Verlangens in Spleen, enthemmte Brillanz und bodenlose Melancholie zugleich. Auch in den Briefen von Sterne zeigt sich dieses Wechselbad aus Gefühl und Verstand, er selbst nennt es den Geist des Shandyismus, frei nach seinem tristfröhlichen Protagonisten Tristram Shandy. So schrieb er 1762 aus Paris an Henry Egerton, den Schatzmeister der Diözese Bangor:
    "Mein lieber Sir, ich habe tausend Gründe, mich dafür zu schämen, daß ich Ihnen nicht eher geschrieben habe; und ich habe hundert Gründe (doch nebenher gesagt, keine einzige Entschuldigung), die mich von Tag zu Tag daran gehindert haben, zur Feder zu greifen; wenn’s mir beliebte, könnte ich Ihnen ja sagen, ich sei jeden Briefwechsels überhoben, nach meinem Tod – aber das ist eine Lüge – denn ich habe seither 3 Briefe geschrieben, nämlich an Hall & Garrick – die neuesten englischen Zeitungen hier melden meine Auferweckung, & also ist es hoch an der Zeit, daß ich Ihnen jetzt schreibe oder nie – Seltsam! daß ein Mensch so inkonsequent sein kann!"
    Ethos der Aufklärung
    Hall und Garrick, das waren Sternes Freunde John Hall-Stevenson und David Garrick. Hall war Linguist, teilte mit Sterne die Begeisterung für Rabelais und veröffentlichte selbst eine zotige Variante des Shandyismus, während Garrick seinerzeit der berühmteste Schauspieler Englands war und Sterne nach seinem Debüt protegierte. Die Werkausgabe bietet neben den beiden Klassikern etliche Schätze, und einer davon ist Sternes tatsächliches Debüt, dessen erste Auflage auf Geheiß des Erzbischofs von York, John Gilbert, vollständig zu vernichten war – Sterne behielt nur das Manuskript, sechs Exemplare überdauerten, erst 1914 fand sich ein gänzlich erhaltenes wieder. Es heißt Ein politisches Märlein und handelt – kaum verschleiert – von einem tatsächlichen Zwist in York um die Vergabe kirchlicher Ämter. Der Text besteht aus einem Brief, in dem der Streit geschildert wird, inklusive textbildlicher, typografischer Varianten, einem Nachtrag und einen Kommentar. Er besitzt bereits zahlreiche Eigenschaften, die Sterne im Tristram Shandy ungleich nuancierter noch ausarbeiten wird: Wie das Banale Anlass erbittertster Austragungen wird, die auf die Art lächerlich wirken und Autor und Leser reichlich Stoff bieten, damit selbst zu phantasieren; wie die Gestalt des Textes vielschichtig, gebrochen und offen ist; wie Ernst vor allem Scharfsinn erfordert, der Selbstironie immer einschließt. Sterne ist ein Aufklärer, auf seine Art: kein Idealist, Universalist, Rationalist, vielmehr einer, der die Narrenkappe aufbehält, wenn andere sich zum Narren machen. Erasmus von Rotterdam, Michel de Montaigne, sie stehen im Hintergrund, und so finden sich gleichsam Stellen mit deutlich aufklärerischem Ethos, wenn Sterne etwa Sklaverei und Rassismus in Frage stellt, in seinen Briefen wie auch in diesem Ausschnitt aus Tristram Shandy von 1767:
    "Weshalb also, mit Verlaub Euer Gnaden, sollte dann ein schwarzes Mensch ärger behandelt werden als ein weißes?/ Ich finde keinen Grund dafür, sagte mein Onkel Toby ― / – Einzig bloß, rief der Korporal und schüttelte den Kopf, weil keiner dafür einsteht – / – Das eben, Trim, sprach mein Onkel Toby, – empfiehlt sie jedermanns Schutz – und ihre Brüder ebenfalls; das Kriegsglück hat voritzt die Peitsche uns in die Hand gegeben – doch wie’s hernach einmal sein wird, weiß der Himmel!"
    Mit Maske und ohne – Laurence Sterne in seinen Briefen
    Dank der Werkausgabe treten Zwischentöne in den Texten von Laurence Sterne mehr in den Vordergrund. Durch die Briefe entdeckt man Passagen, die von keinem literarischen Programm der sentimentalischen und bisweilen auch neunmalklugen Gewitztheit dominiert werden: Die Briefe an seine Frau sind ein Zeugnis der wahren Prosa des Lebens, von den zärtlichen Avancen angefangen, über die Entfremdung, getroffene Vereinbarungen, bis hin zur Trauer über die ganze Entwicklung. Seinem Freund Hall-Stevenson gegenüber macht er sich – vorsichtshalber – auf Lateinisch Luft:
    "Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber ich habe meine Frau so satt & bin ihrer so leid wie nie zuvor – & in mich ist ein Teufel gefahren, der mich in die Stadt treibt – & Du bist von demselben bösen Geist besessen, der Dich hier in der Wüste festhält, damit Du weiterhin von Deinen Dienstmädchen in Versuchung geführt und von Deiner Frau bis zum Wahnsinn schikaniert wirst – glaube mir, mein Antonius, auf diesem Wege erlangen wir unser Heil weder in dieser noch in der nächsten Welt (…)."
    Sterne lebt nicht nur in vielfach unaufgeklärten, sozusagen prä-faktischen Zeiten, die ihm oft genug Anlass zu Spott und Vergnügen sind, er sucht auch nach Freiheit in seiner beruflichen Abhängigkeit von der Kirche, seinen Verpflichtungen als Ehemann, den moralischen Forderungen der Gesellschaft. Dabei ist er imstande ebenso alle Männer zu verfluchen wie sich selbst überaus ichbezogen männlich zu verhalten. Die zärtlichste Verbundenheit – ohne Abrechnungsgelüste gegenüber seiner Frau oder vorwitzigem Charme gegenüber seinen Geliebten – gilt dem einzigen seiner Kinder, das nicht tot geboren oder sogleich gestorben war, seiner Tochter Lydia. Ihr schreibt er kurz vor seinem Tod, im März 1768:
    "Der mangelhafte Zustand meiner Gesundheit beugt mich nieder, und Eitelkeit hat keine Wohnung in Deines Vaters Brust – diese elende Influenza – beunruhige Dich nicht, ich werde sie schon überstehen – und am ersten Mai bei Euch beiden sein, und sollte ich noch einmal davonkommen, so wird’s auf keine lange Zeit mehr sein, mein Kind (…)."
    Letzter Wunsch – Literarisches Erbe
    Weder seine Tochter noch seine Frau, die beide in Südfrankreich lebten, während Sterne in England war, sollte er wiedersehen. Immer wieder spekuliert er in seinen Briefen und im Tristram Shandy, wie lange er noch leben werde, und wie hoffnungsvoll verschätzte er sich auf grausame Weise. Schon neun Jahre nach seinem Romandebüt verstarb er, mit 55 Jahren. In seinem letzten Brief bittet er die Frau eines befreundeten Ehepaares, Anne James, sich seiner Tochter anzunehmen:
    "Sterbe ich, so behalten Sie mich in guter Erinnerung, und vergessen Sie die Torheiten, welche Sie so oft mißbilligten und zu denen mich mein Herz, nicht mein Kopf verleiteten. Sollte mein Kind, meine Lydia, einer Mutter bedürfen, darf ich hoffen, daß Sie sie (wenn sie dereinst ganz verwaist ist) an ihre Brust nehmen? – Sie sind die einzige Frau auf Erden, auf die ich für einen solchen Akt der Nächstenliebe bauen kann. – Ich habe vor vierzehn Tagen geschrieben und gesagt, was sie, wie ich zuversichtlich hoffe, an Ihnen finden werde."
    Persönliche Torheiten mögen vergessen sein – literarisch verfeinert würzen allzumenschliche Schwächen Sternes Bücher so kräftig wie eh und je, zur anhaltenden Freude seines Publikums, in Gestalt des Onkel Toby, der Figur von Tristrams Vater oder auch jener von Witwe Wadman. Onkel Toby etwa ist die Sehnsuchtsidee eines friedliebenden Militärs, ein von Natur aus herzensguter, geradliniger, verspielter großer Junge, der an seiner Schamleiste schwer verletzt wurde, und nun ist es das Bestreben der verliebten Witwe Wadman eben dies genauer zu untersuchen. Dazu beweist sie sich kriegerischer als ein in Ehren entlassener Befehlshaber, so im Tristram Shandy zu lesen:
    "(...) dieser Umstand sowie der Vorteil einer dichten Laube, welche zwar zu Mrs. Wadman’s Garten gehörte, zugleich aber auch in meines Onkel Toby’s Heckenrain hineinragte, gaben ihr alle Gelegenheiten an die Hand, deren die Kriegskunst der Liebe bedurfte; sie konnte meines Onkel Toby’s Bewegungen beobachten und wachte insgleichen über seinen militärischen Beratschlagungen; und weil er in der Arglosigkeit seines Herzens dem Korporal durch Bridget’s Dazwischenkunft Permiß gegeben, ihr ein kleines Verbindungspförtchen zu machen, auf daß sie ihre Spaziergänge ausdehnen könne, ward sie in den Stand gesetzt, ihre Approchen sogar bis an die Tür des Schilderhauses vorzutragen und hin und wieder, von Dankbarkeit überkommen, die Attacke zu wagen in dem Bestreben, meinen Onkel Toby mitten in seinem Schilderhause in die Luft zu sprengen."
    Ob sie es denn geschafft hat, den offenbar doch impotenten Toby zu seinem und ihrem Glück zu verhelfen, bleibt, wie so vieles bei Laurence Sterne, den Leserinnen und Lesern überlassen. Sein Roman Tristram Shandy, schreibt er an einer Stelle, sei wie ein marmoriertes Blatt, also ein buntscheckiges, erstarrtes Tropfenbild, Produkt des gelenkten Zufalls. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, fügte er ein solches Blatt – jeweils als Unikat – in die Erstausgabe seines Buches ein. In der jetzigen Werkausgabe wurde eines dieser Originalblätter reproduziert. Und so entscheidend die sprachliche Übersetzung seiner Werke ist, so wichtig ist auch deren buchkünstlerische Umsetzung, da Sterne mehrere Zeichnungen und auf einem Blatt ein beidseitig identisch hochkantiges, pechschwarzes Rechteck einfügte, als Gedenktafel für den verstorbenen Pfarrer Yorick. Günter Jürgensmeier, Manja Hellpap und Lisa Neuhalfen haben die Gestaltung der Werkausgabe beispielhaft versorgt und damit wesentlich zum Seh- und Lesegenuss beigetragen. Während alle Bücher mit marmorierten Drucken verziert sind, zeigt die Kassette, die sie gemeinsam fasst, einen fröhlichen Narrentanz, wie ihn Thomas Rawlandson 1809 für eine Ausgabe der Empfindsamen Reise illustriert hat. Den Narren beseelt das Träumen, in stetig fließenden Formen, so scheint es. Wie schön, eine Narrenkappe nun, so detailgenau und sorgfältig verlegt, in Händen zu halten.
    Laurence-Sterne-Werkausgabe in drei Bänden
    Band 1: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman
    Band 2: Empfindsame Reise / Tagebuch des Brahmanen / Briefe an Eliza / Satiren / Kleine Schriften
    Band 3: Sämtliche Briefe
    übersetzt von Michael Walter
    mit biographischem Beiheft von Wolfgang Hörner
    Galiani Verlag Berlin
    1952 Seiten, gebunden im Schuber, 98 Euro