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"Le Micro"
Eine Zeitung fürs Café

Normalerweise werden Zeitungen am Kiosk oder im Supermarkt verkauft. Das Team von "Le Micro" setzt dagegen voll auf Kaffeehäuser - und auf Reportagen aus der westlichen Schweiz. Und auch sonst macht die Schweizer Zeitung einiges anders als normale Lokalmedien.

Von Antje Allroggen | 08.07.2019
Ein Mann sitzt in einem Cafe und liest eine Zeitung.
Für die Macher der Zeitung "Le Micro" sind Cafés wichtige Orte (dpa / picture alliance / Paul Zinken)
Ein kleines Bistro in einem Vorort von Lausanne. Fabien Feissli sitzt an einem Tisch, vor sich eine Tasse Kaffee und ein Stapel Zeitungen. Fünf Jahre lang hatte er als Redakteur für "Le Matin" in Lausanne gearbeitet, dann kam die Kündigung. Damals ein echter Schock.
Nach einer kurzen Zeit der Trauer hatte Feissli die Idee, eine eigene, neue Zeitung zu gründen. Eigene Redaktionsräume gibt es dafür nicht. Stattdessen arbeiten Feissli und seine Kolleginnen und Kollegen gerne in Cafés. Mit der Zeitung will Feissli die Lücke schließen, die "Le Matin" hinterlassen hat.
"Anfangs war es nicht mehr als eine Idee unter Kollegen, das war nicht wirklich ernst gemeint. Aber wir haben uns gefragt, ob wir nicht eine Zeitung gründen könnten, in der man viele Reportagen findet. Eine Zeitung, die nicht einfach der Aktualität hinterherrennt. Und ganz allmählich hat sich so die Idee entwickelt, sich nicht einfach einen neuen Job zu suchen, sondern selber eine Zeitung zu machen. Mit einer Struktur, die zu uns passt", sagt Feissli.
Treffen mit Leserinnen und Lesern
Prompt entwickelte Feissli ein Konzept für seine neue Zeitung. Sie sollte nicht am Kiosk oder im Supermarkt zu kaufen sein, sondern ausschließlich in den Cafés und Bistros der Region ausliegen.
"Wir haben uns mit vielen Betreibern von Cafés und Restaurants zusammengesetzt und haben uns auch mit Lesern getroffen und sie um ihre Meinung gefragt, wie sie sich unsere neue Zeitung vorstellen. Und da kam immer wieder die Antwort, dass sie in Papierform erscheinen müsse. Niemand von denen wollte eine Zeitung, die man nur auf dem Tablet lesen kann oder auf einem Smartphone. Und nach zwei dieser Sitzungen stand das Konzept von ‚Le Micro‘", so Feissli.
Exklusive Inhalte aus der Region
Auch inhaltlich unterscheidet sich "Le Micro" von anderen Tageszeitungen. Während in "Le Matin" vor allem Klatsch- und Sportgeschichten zu finden waren, legt "Le Micro" Wert darauf, eigene Geschichten aus der Region zu generieren, die in anderen Medien nicht zu finden sind.
Eher zufällig entdeckte Feissli zum Beispiel einen Friseur in Lausanne, der Obdachlosen umsonst die Haare schneidet. Daraus entstand eine lange Reportage. Ein Kollege besuchte das Baby-Labor in Genf und erfuhr vor Ort, dass es gar nicht so einfach ist, ausreichend junge Eltern zu finden, die ihr Neugeborenes für Baby-Studien zur Verfügung stellen. Geschichten, die sich vor der Haustür ereignen und die die lokale Konkurrenz "20 Minutes" nicht zu bieten hat.
Großes Interesse an gedruckter Zeitung
Deshalb bezeichnet Feissli die Westschweiz als eine Region, die von den Medien vernachlässigt wird. Genauso wie das Bedürfnis vieler Leserinnen und Leser dort, ihre Zeitung in gedruckter Form lesen zu wollen.
Otfried Jarren, Professor für Medienwissenschaften an der Universität Zürich, beschrieb diesen Trend schon vor einem Jahr so: "Das Publikum, das man dort erreicht, ist kein klassisches Online-Publikum. Es ist eher ein Publikum, das etwas älter, männlich geprägt ist, das noch stärker an der klassischen Form, beispielsweise von gedruckter Presse festhält."
Finanzierung für mehrere Monate
Anfang dieses Jahres startete Feissli dann eine Crowdfunding-Aktion. Für den Start sollten 90.000 Schweizer Franken zusammenkommen – rund 81.000 Euro. Schon im Februar war die Summe angespart – innerhalb von nur 20 Tagen. Mit am Ende 127.000 Schweizer Franken wurde das Ziel sogar übertroffen. Damit konnte Micro im vergangenen Mai an den Start gehen.
"Unsere Finanzierung ist jetzt sicher für einen plus sechs weitere Monate. Also normalerweise müssten wir dieses Jahr schaffen. Aber wir werden auf keinen Fall ein zweites Crowdfunding machen. Wir werden die Leute nicht nochmal nach Geld fragen", sagt "Le Micro"-Gründer Feissli.
Ende Juni allerdings war das gesteckte Ziel mit 600 verkauften Exemplaren noch nicht erreicht. 1000 müssten es sein, damit sich "Le Micro" auf dem Zeitungsmarkt langfristig etablieren kann. Deshalb wirbt Feissli mittlerweile nicht mehr nur in den Cafés für seine neue Zeitung, sondern spricht auch in Arztpraxen und Geschäften vor. Viel Zeit für eigene recherchierte Geschichten hat Fabien Feissli zwei Monate nach Erscheinen der ersten Ausgabe von Micro also immer noch nicht.