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Leben auf Pump

Mustafa und Tamer haben Handy-Rechnungen zwischen 100 und 300 Euro im Monat.

Von Annamaria Sigrist | 16.04.2004
    Mustafa:
    Ich kriege eine SMS und wenn meine Freunde mich dann anrufen, da muss ich doch zurück anrufen. Das ist doch schade, wenn ich jetzt nicht antworte, dann denken die, was ist das denn für ein Geldgeier, was ist das denn für ein geiziger Mensch.

    Tamer
    Ich bin auch schon in Schulden geraten. Das ist so: Der Vertrag ist was Schönes. Telefoniert man - da hat man kein Problem, da redet man, da redet man, da sagt man: das ist egal.

    Wer kein Handy hat ist out, meinen die beiden. Handys sind ihr Statussymbol.

    Tamer:
    Wir leben im 21. Jahrhundert. Da muss man als Jugendlicher so was haben. Wenn man so was nicht hat, wird man gehänselt, oder man wird nicht akzeptiert - so ein Gefühl haben wir. Das ist auch bei den Klamotten so.

    Irgendwann sind die Rechnungen so hoch, dass sie nicht mehr bezahlt werden können. Anfangs springen die Eltern noch ein. Die machen aber irgendwann nicht mehr mit. Das Geld muss selbst verdient werden. Wenn das Ausbildungsgeld nicht reicht, müssen Aushilfsjobs her. Doch die finden sich nicht so leicht. Familie, Freunde oder auch Banken leihen Geld. Die Rechnungen aber werden immer höher, das geliehene Geld kann nicht mehr zurückgezahlt werden: Der Anfang einer Schuldner- und möglicherweise auch einer kriminellen Karriere.

    Mustafa:
    Oder man tut klauen. Es gibt viele Jugendliche, die ihre Schulden nicht bezahlen können und entweder sind sie in Inkasso oder sie klauen oder sie gehen zu Leihhäusern.

    Tamer:
    Wenn ich so bedenke, wenn ich so weitermache - telefonier und telefonier, irgendwann ist auch für mich Schluss, dann muss ich Aushilfe machen, oder was anderes machen, schlimmere Sachen so. Ja, klauen, und so weiter

    Die Schutzgemeinschaft für Kreditsicherung, kurz SCHUFA, hat in ihrem Schuldenkompass 2003 festgestellt, dass überdurchschnittlich viele 20- bis 24-Jährige mit den Gebühren ihres Handys nicht klarkommen. Wie das Münchner Institut für Jugendforschung festgestellt hat, sitzt jeder zehnte Jugendliche im Alter zwischen 13 und 24 Jahren auf einem Schuldenberg von durchschnittlich 1550,- Euro.

    Wer schon als Jugendlicher überschuldet ist, kann im weiteren Leben der Schuldenspirale oft nicht mehr entkommen. Denn als junger Erwachsener steht er dann vor Anschaffungen für eine Wohnungseinrichtung oder vielleicht ein Auto. Urlaub wird bereits auf Pump finanziert. Die Geburt eines Kindes verschärft die Situation noch zusätzlich, weil meist ein Einkommen, das der Mutter, plötzlich wegfällt. Schuldnerberater Markus Kühn aus Köln erklärt die Mechanismen:

    Man versucht, das eine Loch mit dem anderen zu stopfen. Man zahlt möglicherweise die Telefonrechnung nicht, die Stromrechnung nicht und wenn es größere Beträge sind, wird vielleicht auch mal die Miete nicht bezahlt. Und wenn ein Mietrückstand von zwei Monaten besteht, dann hat der Vermieter den Grund zur Kündigung der Wohnung, und das ist vielen einfach nicht bewusst und bringt sie auch ganz schnell an den Rand der Existenz.

    In Deutschland sind drei Millionen Haushalte überschuldet, das heißt, sie geben regelmäßig mehr aus, als sie sich leisten können. Das sind über fünf Millionen Menschen. Dieter Korczak, Mitverfasser des ersten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung von 2001 und Leiter des Münchner Instituts für Grundlagen und Programmforschung, erläutert die grundsätzliche Schuldenlage in Deutschland.

    Es gibt generell einen Unterschied zwischen Ost und West, der sich dadurch erklären lässt, dass in Ostdeutschland die Rate der Arbeitslosigkeit wesentlich höher ist, als in Westdeutschland. Wenn Sie daran denken, dass die ostdeutschen Bundesländer im Schnitt 20 Prozent Arbeitslose haben, dann erklärt sich das sehr leicht. Man kann generell sagen, dass in Ostdeutschland der Freistaat Sachsen ein begünstigtes Land mit wenig Überschuldeten ist. Das Gleiche gilt für den süddeutschen Raum - Bayern und Baden Württemberg. Je weiter man nach Norden kommt - je höher wird auch der Anteil der Überschuldeten. Insgesamt sind 6,2 Prozent der Haushalte in Westdeutschland und 12,5 Prozent der Haushalte in Ostdeutschland überschuldet.

    Die Ursachen sind vielfältig. Schulden haben bedeutet nicht zwangsläufig, selber schuld daran zu sein. Unerwartete Arbeitslosigkeit, Trennung vom Lebenspartner oder Scheidung, Unterhaltszahlungen reißen plötzlich finanzielle Löcher. Aber auch der Verführung zu immer mehr Konsum können sich viele Menschen nicht entziehen. Denn die Flut von Werbebotschaften suggeriert: Nur wer kauft , ist glücklich. Überschuldung ist längst kein Randgruppenproblem mehr. Marius Stark, Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung.

    Das sind Menschen, die zunehmend auch aus der so genannten Mittelschicht stammen, also nicht nur das so genannte Armutsklientel, was geprägt ist durch schwierige Wohn- und Lebenssituation, sondern immer mehr Menschen, die in ganz normalen Verhältnissen leben und die aufgrund der problematischen wirtschaftlichen Situation, zum Beispiel Arbeitslosigkeit, da in eine solche Situation geraten.

    Ein Beispiel: Der 45 Jahre alte Jürgen Schmidt. Sein Name ist geändert, er will anonym bleiben. Seine Eltern waren wohlhabend, haben dem Sohn grundsätzlich alles bezahlt und die überzogenen Konten ausgeglichen. Das ging solange gut, bis die Eltern starben. Alkohol kam mit ins Spiel. Irgendwann war er mit über 100.000 Euro verschuldet.

    Hauptgläubiger war die Bank, das war 90.000 Euro und dann noch die Kreditkarte, die hatte ich auch nicht mehr zurückgezahlt. Dann hatte ich noch Krankenhausrechnungen - ich war damals privat versichert, das Geld, was die Versicherung bezahlt hat, habe ich direkt für etwas anderes ausgegeben, anstatt die Krankenhausrechnungen zu bezahlen Ich habe halt immer nur teure Sachen gekauft und teure Autos gefahren, die auch zu Schrott gefahren, auch schuldhaft. Ein Posten meiner Schulden war auch das Auto, ein Totalschaden und das hat die Versicherung nicht bezahlt, das habe ich da selber bezahlt.

    Es gab Tage, da hatte er nur noch fünf Euro in der Tasche. Irgendwann konnte er seine Miete nicht mehr bezahlen. Zuerst war er angestellt, schmiss den Job, weil er meinte, als Selbständiger im Außendienst besser verdienen zu können. Doch seine Alkoholkrankheit und sein höchst aufwendiger Lebensstil machten ihm im wahrsten Sinn des Wortes einen Strich durch die Rechnung.

    Ich war immer mit Leuten zusammen, die sehr viel Geld verdient haben und da habe ich mir eingebildet, da muss ich irgendwie mithalten, allerdings habe ich darüber vergessen, dass ich dafür auch irgendwie arbeiten muss. Und das war das Hauptproblem. Ich habe immer den Erfolg gesehen, der eigentlich noch gar nicht da war. Ich habe auch, wenn ich Aufträge hatte, das Geld schon ausgegeben, bevor der Vertrag zustande gekommen ist. Hinterher ist es in die Hose gegangen, das Geld war aber schon ausgegeben. Das war eine komplett verkorkste Denkweise.


    Seiner Frau brachte er wegen seiner Alkoholexzesse teure Entschuldigungs-Geschenke mit. Doch die ließ sich irgendwann nicht mehr einwickeln und verließ ihn. Zahlungsaufforderungen, Rechnungen und Mahnungen kamen - erst ein paar, dann immer mehr. Die hat er dann gar nicht mehr aufgemacht. Entweder landeten sie direkt im Papierkorb oder in einer großen Kiste.
    Ein Leben auf Pump ist nur mit Hilfe der Banken möglich. Und manche Kreditinstitute machen damit Geschäfte. So die Erfahrung des Schuldnerberaters Markus Kühn aus Köln:

    Das Problem ist, dass es Banken gibt, so z.B. die Citibank, die Kettenkreditverträge abschließt, d.h. ganz offensichtlich Kreditverträge vermittelt, die durch die Kundschaft nicht mehr zahlbar sind. Damit das Girokonto ins Minus setzen und das überzogene Dispo mit einem erneuten Kredit ausgleichen. Das hat eine Wechselwirkung und das führt dazu, dass die Betroffenen zum Teil mehr als die Hälfte ihres Nettoeinkommens für die Kreditrate ausgeben müssen. Das funktioniert natürlich nicht und dann scheitern diese Verträge.

    Häufig suggerieren die Banken, die Aufnahme von Krediten sei überhaupt kein Problem. Armutsforscher Dieter Korczak nennt da als verführerisches Beispiel die Hypobank in Bayern. Ihre Werbebotschaft: "Leben Sie jetzt - wir kümmern uns um die Details". Natürlich will jeder ein möglichst unbeschwertes Leben führen - doch an der Rückzahlung der Kredite kommt keiner vorbei. Dieter Korczak:

    Es gibt andere Beispiele von der Verbraucherzentrale Düsseldorf, die ein Testpaar herumgeschickt hat, die 1500 Euro Netto-Einkommen hatten als Paar. Von 21 Testinstituten Kreditinstituten, die dieses Paar besucht haben, haben 17 Institute diesem Paar Kredite teilweise in der Größenordnung von Zinszahlungen im Monat von 500 Euro und mehr verkauft. Also das tut mir leid, da kann ich nicht mehr sehen, dass die Banken da die Verantwortung übernommen, oder dieser einzelnen Institute, die sie sich selbst aufs Banner schreiben.

    Jürgen Schmidt hatte sein Leben sicherlich nicht im Griff. Aber die Banken haben das Problem , dass er sich immer weiter verschulden konnte, ganz gewiss verschärft. Sein Geschäftskonto war ständig überzogen. Er nahm immer wieder neue Kredite auf, um das Konto wieder auszugleichen. Allein für die Zinsen musste er dann schon 1600 Euro zahlen.

    Die Bank hat das immer mitgemacht. Ich habe auch nie eine Sicherheit gebraucht. Damals, als ich zu dieser Bank gegangen bin, wollte ich einen geförderten Kredit aufnehmen, einen Existenzgründungskredit. Da hat der gesagt - ach das ist viel zu viel Arbeit. Ich gebe Ihnen ein Dispo von 20.000 Euro. Da hat der mich gar nicht gekannt.

    Irgendwann hatte Jürgen Schmidt keinen Durchblick mehr - er wusste nur, dass er einen Haufen Schulden hatte.

    Das war völlig chaotisch. Wenn Sie sich die Schulden selber zusammenrechnen wollen, gerade auch die Bankschulden, das geht gar nicht. Das ist reine Spekulation. Selbst als ich die angeschrieben habe, die sollen mir das mal auflisten alles, da bin ich nicht schlau draus geworden, da ist niemand draus schlau geworden.

    Helfen konnte ihm nur noch die - kostenlose -Schuldnerberatung. Die meisten Überschuldeten finden den Weg dorthin aber erst dann, wenn kaum noch etwas zu retten ist, oder wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Denn wer gibt schon gerne zu, dass er finanzielle Probleme hat.

    Der Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberater, Marius Stark, schätzt, dass nur 10 bis 15 Prozent der Überschuldeten überhaupt den Mut finden, sich Hilfe zu holen. Und wenn sie es tun, müssen sie bei den Beratungsstellen mit extrem langen Wartezeiten rechnen.

    Wir haben derzeit vielfach Wartezeiten von einem halben Jahr und länger. Es ist so, dass wir derzeit ca. 1000 Beratungsstellen in Deutschland haben. Wenn man das hochrechnet, wäre eine Beratungsstelle pro 100.000 Einwohner derzeit da. Wenn man die Prozentzahlen der überschuldeten Haushalte sieht, dann käme auf 7000 verschuldete Haushalte eine Beratungsstelle, und das ist einfach zu wenig.

    Und weil dem so ist, blüht das Geschäft mit den Schulden.

    Zum einen sehen wir es als sehr problematisch an, dass aufgrund des geringen Beratungsangebotes so genannte Schuldnerberatungsstellen auf den Markt kommen, die damit werben, dass sie ohne Wartezeiten den Not leidenden Schuldner direkt helfen können. Aber der soll zunächst mal bezahlen. Die Erfahrung ist, dass dann außer Spesen nix gewesen ist. Und darüber hinaus ist es natürlich schon so, dass Menschen, bevor sie sich an eine Beratungsstelle wenden, alles mögliche andere versuchen, um mit ihren finanziellen Problemen klar zu kommen. Weil über Geld spricht man nicht, Geld ist ein Tabuthema und deswegen können solche Kreditgeber, die damit werben, dass sie ohne Schufa-Auskunft, also ohne dass es überprüft wird, Geld ausgeben können, die natürlich immer noch ihre Geschäfte machen und die natürlich noch teurer sind, wo eben dann zu dem bestehenden Schuldenberg eine Summe dazukommt.

    Seit 1999 hat jeder Bürger, der überschuldet ist, das Recht Verbraucherinsolvenz anzumelden. Bei der Beratung wird zunächst versucht, mit den Gläubigern eine Einigung zu erzielen. Gelingt das nicht, wird ein gerichtliches Verfahren eingeleitet. Der Schuldner muss dann innerhalb von sechs Jahren den pfändbaren Teil seines Einkommens an einen Treuhändler zahlen, der das Geld an die Gläubiger verteilt. Legt der Schuldner alle Einkünfte offen und hält er weitere Auflagen ein, so werden ihm danach alle Restschulden erlassen. Der Bedarf in Deutschland ist riesig. Gerade hat das Statistische Bundesamt die letzten Zahlen der Verbraucherinsolvenzen veröffentlicht: Allein im Jahr 2003 gab es in Deutschland einen Zuwachs um fast 57 Prozent. Und der Trend werde sich angesichts der etwa drei Millionen überschuldeten Haushalte in Deutschland fortsetzen, so die Prognose des Präsidenten des Statistikamtes, Johann Hahlen. Doch manche Bundesländer wie Hessen oder Bayern ziehen sich jetzt aus der Finanzierung der Insolvenzberatung zurück. Als Teil der "Operation sichere Zukunft" hat Hessens Ministerpräsident Roland Koch mit Beginn des Jahres die Mittel für die Insolvenzberatung komplett gestrichen. Die Folgen für die Schuldner sind nachhaltig, so Thomas Zipf, Vorstand in der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung in Hessen.

    Einzelne Stellen in Hessen haben zugemacht, haben ihre Tätigkeit völlig eingestellt, da die Landesfinanzierung weggefallen ist. Und dann gibt es Zwischenformen, da gibt es Beratungsstellen, die ihr zeitliches Angebot reduziert haben, Mitarbeiter gekündigt haben. Es gibt Beraterstellen in Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege, die jetzt selber einspringen für den Zeitraum von einigen Monaten, aber wenn dann nicht bis Mitte des Jahres andere Finanzquellen aufgetan werden, dann werden auch dort Kündigungen vorgenommen werden.

    Thomas Zipf ist selbst Leiter der Schuldnerberatungsstelle Darmstadt. Wegen der Kürzung der Landesmittel stehen nun 67.000 Euro weniger zur Verfügung. Und die Stadt will, bzw. kann die fehlenden Gelder nicht ersetzen. Die Folge: Das Beratungspersonal wird auf Dauer reduziert werden müssen.
    Das heißt für die Schuldner ganz konkret gesprochen, dass sie noch viel längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen, als sie jetzt schon müssen. Das bedeutet für viele Schuldner ein verzweifeltes Verschieben auf den St. Nimmerleinstag, ein nicht mehr Herausfinden aus der Situation. Die Folgen liegen sehr stark im seelischen Bereich, Verzweiflung, bis hin zum Suizid. Was wir an Schuldnerberatungsstellen erleben, liegt sehr stark im finanziellen Bereich: Dauerarbeitslosigkeit, Abhängigkeit von Sozialleistungen.

    Auch Bayern zieht sich aus der Finanzierung der Insolvenzberatung zurück. Denn auch die Regierung Stoiber fährt mit dem Programm "Perspektiven für Bayern schaffen" einen rigiden Sparkurs. Bayerns Sozialministerin Christa Stewens:

    Das bedeutet konkret für die Insolvenzberatung, dass wir im Nachtragshaushalt 2004 jetzt 1,8 Millionen ausgewiesen haben. Wir hatten ursprünglich im Nachtragshaushalt 2,5 Millionen, so dass wir immerhin noch eine Kürzung von 700.000 Euro haben. Aber ich meine schon mit 1,8 Millionen kann in Bayern auch die Insolvenzberatung, gerade die integrierte Beratung von Schuldner- und Insolvenzberatung maßvoll weitergeführt werden.

    Tatsache ist jedoch, dass von diesen 1,8 Millionen eine Million allein für Altfälle aus dem vergangenen Jahr verwendet werden müssen. Für das Jahr 2004 stehen damit lediglich 800.000 Euro zur Verfügung. Und die werden dann auf alle 89 Schuldnerberatungsstellen verteilt. Dabei sind in Bayern die Verbraucherinsolvenzen seit 1999 um mehr als 800 Prozent gestiegen. Sozialministerin Stewens allerdings ist der Ansicht, nicht die Politik müsse die Verantwortung übernehmen, sondern die betroffenen Menschen selbst. Außerdem sollten Rechtsanwälte künftig die Insolvenzverfahren übernehmen.

    Natürlich gibt es immer mehr Schuldner, aber wir müssen natürlich auch ein stückweit stärker, nachdem der Staat immer weniger Geld hat und immer weniger Steuereinnahmen hat, stärker auch auf die Verantwortlichkeit der Bürger setzen. Der Staat wird sich aus den unterschiedlichsten Bereichen zurückziehen in der Förderung, wobei dieses ja eine gesetzliche Vorgabe ist. Aber diese gesetzliche Vorgabe können auch die Rechtsanwälte erfüllen.

    Auch die hessische Landesregierung argumentiert, Rechtsanwälte könnten und sollten die Insolvenzverfahren übernehmen. Doch die Praxis sieht anders aus: Insolvenzverfahren sind sehr arbeitsintensiv, der Umgang mit den Schuldnern oft schwierig- kurz - sie rechnen sich einfach nicht. Thomas Zipf von der Schuldnerberatung Darmstadt weiß, wovon er spricht.
    Ja, wenn ich das mal hart formuliere, ist das Unfug. Weil ein Anwalt muss bezahlt werden oder eine Anwältin. Die Überschuldeten haben aber eins nicht, nämlich Geld, Geld rechtsanwaltliche Hilfe zu bezahlen. Einkommensschwache haben zwar den Anspruch auf Beratung und Prozesskostenhilfe, allerdings werden sie keine qualifizierte Anwaltskanzlei in Hessen finden, die über Beratungshilfe Überschulden abbaut. Hinzu kommt, dass eines völlig übersehen wird: Hier wird zugrunde gelegt, das Idealbild eines Schuldners, die ihr Leben im Griff haben, die ihre Schulden überblicken. Wir sind mit einem Klientel konfrontiert, die keinen Überblick mehr über ihre Schulden haben, die vielerlei Probleme haben. Und diese Hilfe in diesen lebenspraktischen, psychosozialen Bereichen, die kann kein Anwalt leisten, der kann dann gleich selber Insolvenz anmelden.

    Inzwischen gibt es Studien darüber, dass Schuldnerberatungsstellen dazu beitragen, Folgekosten wie Sozialhilfe zu verhindern. Eine bessere Finanzierung würde also den Staat oder die Kommunen billiger kommen, so der Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung, Marius Stark.

    Zum einen hat die evangelische Fachhochschule in Berlin ein Projekt durchgeführt und den Nachweis geführt, dass in Berlin durch Schuldnerberatung der Senat einsparen konnte. Es ist auf die Formel gebracht worden: Für einen Euro, den der Senat für die Schuldnerberatung bezahlt, konnten 2 Euro öffentliche Mittel eingespart werden im Bereich Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe.

    Eine weitere Studie kam zu einem ähnlichen Schluss. Außerdem stellte sie fest, dass Schuldnerberatung auch so genannte weiche Faktoren positiv beeinflusst: dazu zählen die Stabilisierung der Gesundheit und der Wohnsituation, das Behalten des Arbeitsplatzes und letztlich der Zusammenhalt der Familie. Auch Jürgen Schmidt hat dank der Schuldnerberatung die Kurve gekriegt. Zuerst hat er eine Alkoholtherapie gemacht, dann mit Hilfe des Beraters seine Schulden aufgearbeitet. Zum Teil konnte er sie mit familiären Darlehen begleichen, teilweise zahlt er seine Kredite jetzt noch ab. Aber sie haben sich deutlich reduziert. Inzwischen hat er auch wieder einen Job und seine Frau ist zu ihm zurückgekehrt. Allein, sagt er, hätte er aus dem Chaos nicht herausgefunden.