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Leben im Zoo

Als kleines Mädchen ist Lana von ihrem Vater im Zoo zurückgelassen worden. Hier ist sie zwischen Tieren aufgewachsen. Eines Tages bricht ein junger Mann in diese Welt ein. Der indonesische Filmemacher Edwin hat mit "Die Nacht der Giraffe" ein surreales Kinomärchen für Erwachsene geschaffen.

Von Josef Schnelle | 17.01.2013
    "Wenn eine Giraffe läuft bewegt sie das vordere linke Bein immer fast genau gleichzeitig mit dem linken hinteren Bein. Und danach bewegt sie das vordere rechte Bein auch immer gleichzeitig mit dem hinteren rechten Bein. Welches Bein bewegt sich also zuerst. Ist es das linke Vorderbein oder das linke hintere Bein? Das weiß niemand so genau. Außer der Giraffe."

    Man weiß bei diesem Film lange nicht, woran man ist. Handelt es sich um einen zoologischen Film mit einer Prise Philosophie oder um einen philosophischen Film mit Zootieren oder überhaupt um eine frei schwebende poetische Meditation, die die Form eines Films angenommen hat? Der indonesische Filmemacher mit dem Künstlernamen Edwin ist bekannt dafür, dass seine Filme schwer fassbar sind. Zugleich sind sie entrückt und verführerisch poetisch. Eine Märchenwelt für Erwachsene.

    Als kleines Mädchen ist Lana von ihrem Vater im Zoo allein zurückgelassen worden. Zwischen den Zootieren und dem fremdartigen Sound dieser gezähmten Wildnis ist sie aufgewachsen. Die Tierpflegern wurden zu ihren Adoptiveltern und Freunden. Dieser Zoo ist eine ganze Welt mit seiner wagemutigen besonderen Eleganz. Mit Nilpferden und ihrer schwerfälligen Anmut. Mit Elefanten die manchmal grundlos dekorativ mit ihren Ohren flattern als könnten sie damit Flugübungen bestreiten. Im Zoo verläuft das Leben gleichförmig und ohne besondere Höhepunkte und doch ist er ein Panoptikum der schönen und der rätselhaften Gestalten. Lana beobachtet sie alle.
    "Grundsätzlich gibt es im Zoo drei Arten von Lebewesen. Die erste sind die Zoo-Besucher, die hierherkommen um sich etwas anzusehen, egal ob bewusst oder unbewusst. Ein paar von ihnen kommen auch hierher, um sich selber ansehen zu lassen. Die zweite Art sind die Tiere. Sie sind das, was eigentlich angesehen werden soll. Manchmal wissen sie, dass sie beobachtet werden. Manchmal wissen sie es nicht."

    Irgendwann verändert sich etwas. Ein junger Mann taucht auf, in seiner Cowboyuniform ist er selbst ein exotisches Zootier. Er schafft es mit seinen Zaubertricks und seinen magischen Rauchwolken Lana zum Verlassen der schützenden Zoo-Welt zu bewegen. Eine andere Geschichte beginnt, denn Lana vermisst die Klarheit und Übersichtlichkeit des Zoos mehr als schmerzlich. Schließlich gerät sie in ein Erotik-Massagestudio und erkennt, dass sie etwas suchen muss, etwas Fremdes das sie nie hatte: Ein "zu Hause". Mögen sie mir bis hierher auch gefolgt sein. Der ungewöhnlichen Glanz und die ansteckende Fabulierfreude dieser Filmfantasie aus Ostasien kann kaum schon zureichend beschrieben sein. Der Filmkünstler Peter Greenaway hat einmal gesagt: "Film ist ein viel zu reiches Medium, um es nur den Geschichtenerzählern zu überlassen."

    Edwin hat eine überraschende Synthese geschaffen, die das Geschichten Erzählen mit überraschender Bildgewalt versöhnen könnte. So schön, so verträumt, so zerbrechlich und auch so bedroht ist sicher noch kein Kinophantasma beschrieben worden. Manchmal erinnert diese fremde Welt deshalb auch an das surrealistische Meisterwerk "L´age d´or" von Luis Bunuel. Mehr als Dreißig Jahre hat es gedauert, bis dessen künstlerischen Qualitäten anerkannt worden sind. Sicher ist dieses Kinomärchen auch noch nicht massenkompatibel. Es werden keine Monster besiegt, die die Welt bedrohen und es gibt auch keine praktischen Vorteile, die die poetische Logik dieser Welt hat. Edwin bemüht den Zauber den das Kino in seinen Kindertagen bei George Melies hatte – als Welt ohne Vorbild und ohne Regeln und wendet sich ab von jedem Zweck und jeder Actionlogik. So ein Film wird kaum mehr als ein paar Tausend Zuschauer erreichen, aber als Kunstwerk erweitert er den Spielraum, den das Kino haben kann. Bald werden – so hoffen wir - solche anmutigen Giraffen die Herrschaft über die chronisch bedeutungssüchtigen Kino-Blockbuster übernehmen. Verträumt nehmen wir im Kinosessel wahr, dass es noch ganz andere Realitäten geben könnte, als diejenigen, die wir uns in den verrückteste Momenten vorstellen. Im Kino gewesen: geweint. Notierte einst Franz Kafka. Vielleicht kommen wir wieder dahin. Mit einem Lachen.

    "Hab dich doch nicht so, Rita. Wenn Du traurig bist bin ich auch traurig. Du hast doch gehört, wenn ich traurig bin sind alle traurig. Also Kopf hoch."