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Leben in den Slums von Mumbai

Ein Drittel aller Armen weltweit lebt in Indien. Auf deren Lebensverhältnisse schaut die US-Journalistin Katherine Boo am Beispiel des Slums Annawadi in Mumbai. Ihr sorgsam recherchierter Tatsachenroman zeigt vor allem eins: Indiens Arme haben keine Chance, dem Elend zu entkommen.

Von Sonja Ernst | 21.01.2013
    Katherine Boo ließ nicht locker. Von 2008 bis 2011 besuchte die US-amerikanische Journalistin immer wieder Annawadi – einen illegalen Slum in der indischen Finanzmetropole Mumbai: dreitausend Menschen leben dort in 300 schäbigen Hütten. Die Pulitzerpreis-Trägerin interviewte viele der Einwohner, manche immer wieder, und begleitete sie durch ihren Alltag. Entstanden ist der Tatsachenroman "Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben" mit dem Boo das Leben in dem Slum rekonstruiert. Angetrieben war sie von der Frage: Haben Indiens Arme eine Chance, dem Elend zu entkommen? Das Buch liefert als Antwort ein klares "nein":

    "Die Jungen in Annawadi hatten längst die schlichte Wahrheit geschluckt, dass ihr Leben in einer rasant modernisierten und boomenden Stadt wie Mumbai lediglich ein Störfaktor, den man am besten auf engstem Raum wegsperrte, und ihr Tod vollkommen bedeutungslos war."

    Die Mädchen und Jungen von Annawadi rückt Boo in den Mittelpunkt ihres Buches. Zum Beispiel den jungen Müllsammler Abdul Husain. Als ältester Sohn schuftet er hart und ernährt die Familie. Ein Streit mit der Nachbarin Fatima endet mit ihrem Selbstmord und der Verhaftung der Husains. Sie werden fälschlich angeklagt, Fatima in den Tod getrieben zu haben. Eine Abwärtsspirale beginnt: Auf der Wache wird Abdul von den Polizisten ausgepeitscht; sie wollen Geld von den Husains, damit keine Strafanzeige erhoben wird; auch eine Opferbeauftragte will Geld, um "hilfreiche" Zeugenaussagen zu liefern; die Justiz ist überfordert, und der Prozess zieht sich über Jahre. Schnell wird klar: Die Chance auf ein besseres Leben ist dahin. Dass in Indien Armut und Korruption herrschen, ist nicht neu. Doch Katherine Boo legt akribisch die Strukturen des Elends offen – gestützt auf eine umfangreiche Recherche. Neben den zahlreichen Gesprächen hat die Journalistin dreitausend amtliche Akten eingesehen: Akten der Polizei von Mumbai, von Gerichten, von der Stadtverwaltung, von städtischen Krankenhäusern. Die Autorin nennt die Klarnamen der Polizisten, der Opferbeauftragten, von korrupten Lokalpolitikern und von den Slumbewohnern. Ihr gelingt es eindrücklich, den Alltag in Annawadi zu schildern, dabei nie sensationslüstern oder sentimental. Präzise skizziert sie das Müllsammeln – eine überlebenswichtige Arbeit für die Slumbewohner, sei sie auch noch so gefährlich:

    "Dieser Beruf konnte einen Körper in kürzester Zeit zum Wrack machen. Aus Schürfwunden, die man sich beim Tauchen im Müll zuzog, wurden Pockenblasen, und die entzündeten sich. In aufgerissener Haut setzten sich Maden fest. In Haaren gründeten Läuse Kolonien, Gangräne fraß sich zentimeterweise die Finger hoch, Waden schwollen zu Baumstämmen an, und Abdul und seine kleinen Brüder hatten Wetten laufen, wer aus der Truppe der Müllsucher als nächster sterben würde."

    Ebenso nüchtern schildert Boo die Grausamkeiten und die Gewalt innerhalb des Slums. Mädchen mit prügelnden Vätern und Brüdern. Die Tatsache, dass Mädchen getötet werden. Bis heute gelten Frauen in Indien häufig als minderwertig. Außerdem können sich viele Familien die Mitgift – die gesetzlich verboten ist, aber immer noch gezahlt wird – nicht leisten.

    "In den Slums starben andauernd Mädchen unter dubiosen Umständen, die meisten Familien hier hatten kein Geld für Ultraschalluntersuchungen, mit deren Hilfe reichere Familien ihre weiblichen Passivposten schon vor der Geburt entsorgen konnten. Und wenn die Kinder, egal welchen Geschlechts, kränkelten, wurden sie eben manchmal einfach abgeschafft, sie zu pflegen hätte ruinöse Kosten verursacht."

    Parallel zu den Ereignissen in Annawadi blickt Boo auch auf Indien insgesamt. Sie zeigt, dass Fördermaßnahmen der Zentralregierung zum Beispiel im Bildungsbereich bei den Armen nicht ankommen. Schulen werden über Strohmänner gegründet, um öffentliche Gelder zu kassieren und schließen bald wieder. Die kostenlosen öffentlichen Schulen haben solch einen schlechten Ruf, dass auch im Slum Eltern sich Geld vom Munde absparen, damit zumindest ein Kind eine Privatschule besuchen kann – wenn auch eine mittelmäßige. In den USA wurde Boos Buch von den Medien gefeiert. Auch die indischen Medien, die Kritik aus dem Ausland häufig als Nestbeschmutzung abtun, fanden Lob. Das mag auch an Boos Arbeitsweise liegen: Sie fällt kein schnelles, verächtliches Urteil. Sie bleibt neutrale Beobachterin und macht im Nachwort deutlich, dass sie kein Patentrezept bereit hält:

    "Wenn ich an irgendeinen Ort gehe, um zuzuhören und zu beobachten, dann nicht, weil ich mir vormache, dass die Geschichten einzelner Menschen allein für sich Argumente sind. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass wir bessere Argumente, vielleicht sogar eine bessere Politik, erst formulieren können, wenn wir mehr über gewöhnliche Lebensumstände wissen."

    Boo wird zur Chronistin der Lebensumstände in Annawadi, die den Leser immer wieder in Fassungslosigkeit versetzen – auch jene, die um die sozialen Probleme Indiens wissen. Zugleich überzeugt das Buch durch seine erzählerische Eindringlichkeit. Denn Boo beschreibt die Menschen in Annawadi nie als Opfer des Elends, sondern als Handelnde, die versuchen, ihrem Elend zu entkommen. Und sie zeigt, dass Indiens Gesellschaft für seine Armen kaum Chancen auf ein besseres Leben bereit hält.

    Katherine Boo: Annawadi und der Traum von einem anderen Leben. Droemer Verlag, 336 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN: 978-3-42627-592-4