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Leben in der Platte

In Bulgariens Hauptstadt Sofia prägen Plattenbauviertel das Bild um das Zentrum herum. Entstanden sind sie zur Zeit der Industrialisierung in den 50er und 60er Jahren, als die Stadt den Strom an Zuwanderern aus der Provinz aufnehmen musste. Obwohl sanierungsbedürftig und eintönig, bleiben die Plattenbauwohnungen für viele Bulgaren eine bezahlbare attraktive Alternative zu Neubauten. Simone Böcker berichtet.

14.03.2008
    Orlin Parvanov ist auf dem Weg nach Hause. Sein Zuhause, das liegt in Ljulin, im größten Plattenbaugebiet von Sofia. Unterwegs ist der 26-Jährige in seinem Trabant. Den hat er sich von seinem ersten Studentenlohn gekauft während seines Studiums in Deutschland. Innen ist alles original.

    "Das ist hier. in der DDR hieß das Mäusekino. Das ist Momentanverbrauchanzeiger. Das ist wahrscheinlich das Komplizierteste an dem Auto überhaupt."

    Schon Orlins Vater hat einen Trabbi gefahren. Heute ist der Trabant für Orlin mehr als nur ein Auto. Er ist Teil seiner Geschichte genauso wie die scheinbar unendlichen Reihen riesiger Betongebäude, die außerhalb des Zentrums von Sofia rechts und links vom Boulevard auftauchen.

    280.000 Menschen leben hier. In den Plattenbauvierteln sollten damals die sozialen Hierarchien verschwinden. Doch bis heute wohnen hier Leute unterschiedlicher Schichten Tür an Tür, denn nur wenige Bewohner können es sich leisten, wegzuziehen.

    "Wie der Doktor, wie wir ihn nennen. Er ist Chef vom Krankenhaus Isul. Mein Vater ist Atomphysiker, er lebt auch hier. Unser Nachbar von oben war 30 Jahre im Knast. Der Nachbar aus dem zweiten Stock war Bulle bei der Stasi, verschiedene Leute."

    Orlin hält vor Block 333, eine ruhige Straße gesäumt von achtstöckigen Plattenbauten. Orlin wohnt hier zusammen mit seinen Eltern.

    Der Doktor aus dem dritten Stock ist zu Besuch. Man sitzt zusammen am Tisch, isst und trinkt. Es gibt Banitza, ein Blätterteigkuchen mit Schafskäse. Orlins Mutter Anaid schenkt Tee ein. Seit Beginn - also seit fast 30 Jahren - wohnen sie in dem Viertel. Anaid erinnert sich daran, wie sie eingezogen sind. Super sei das gewesen. Damals bedeutete die Plattenbauwohnung Fortschritt, auf den man lange gewartet hatte.

    "Wir haben zuerst mit unseren Eltern zusammen gewohnt. Und als wir unsere erste eigene Wohnung hatten, war es für uns absolut egal, was für eine das ist. Wichtig war, dass wir selbstständig sein wollten. Wir hatten heißes Wasser und Heizung. Es gab noch kein Telefon, aber nach und nach bekamen wir alles."

    Auch heute entstehen in Sofia neue Stadtviertel. Die Baubranche boomt. Diese neuen Wohnkomplexe sind schick, farbenfroh, luxuriös. Aber das Leben in Ljulin ist eigentlich viel bequemer, meint Orlins Vater.

    "Ich finde, dass das Viertel mit seinen Einrichtungen, den Schulen, den Kindergärten, sehr gut geplant ist. Es gibt kein Problem mit Parkplätzen, Geschäften, dem Verkehr. Es ist eine angenehme Region zum Leben. In den neuen teureren Vierteln gibt es viel größere Schwierigkeiten. Es gibt zum Beispiel keine Kanalisation, keine Infrastruktur, schlechte Verkehrsverbindungen, enge Straßen."

    Im Vergleich zu den neu gebauten Wohnkomplexen schneidet die Plattenbauwohnung auf dem Immobilienmarkt recht gut ab: Für den gleichen Preis bekommt man mehr Wohnfläche. Und die Qualität der Neubauten ist oft auch nicht viel besser als die Platte. Zu schnell werden die Gebäude hochgezogen, es wird am Material gespart. Es gibt nur ein Problem, meint Orlins Vater. Das seien die Bewohner. Die würden sich einfach nicht mehr an die Regeln halten.

    "Früher waren die Leute disziplinierter. Und weil hier so viele Leute zusammen wohnen, geht es ohne Disziplin überhaupt nicht. Das führt zu weniger Lebensqualität. Es gibt Probleme mit den Dächern, es gibt viele kommunale Probleme. Aber niemand kümmert sich. Das ist so, weil die Leute sich nicht verantwortlich fühlen für die Gemeinschaft."

    Programmtipp: "Jugend, Freundschaft , Hoffnung - Vom Leben in Sofias Plattenbauten", Gesichter Europas, 15. März, 11.05 Uhr