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Leben in der Wissensgesellschaft

Weil gesellschaftliche Relevanz heute primär am ökonomischen Nutzen bemessen werde, stünden die Geisteswissenschaften nach wie vor in Rechtfertigungsnöten, so lautete der Tenor einer internationalen Tagung in Berlin, die sich mit der Bedeutung der Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert beschäftigt hat.

Von Ingeborg Breuer | 22.12.2011
    "Psychoanalyse wird nicht zu den Wissenschaften gezählt. Und zwar deswegen nicht, weil man sagt, Wissenschaften sollten durch die Möglichkeit der Falsifikation gekennzeichnet sein und die Psychoanalyse ist ein Gedankengebäude, was keine Überprüfung zulässt."

    Das Statement des Neuropsychologen Hans Markowitsch verursachte einen kleinen Eklat auf der Berliner Tagung. Denn man verstand das Urteil des Bielefelder Professors als einen Affront gegen die Geisteswissenschaften überhaupt. Die Psychoanalyse versucht ja, ähnlich der Philosophie, eine Antwort zu geben auf die Frage, was denn der Mensch sei und richtet danach ihre Therapie aus. Doch für Hans Markowitsch sind das spekulative Ideen, die sich an der Realität bewähren müssen. Das heißt: Eine wirksame Therapie muss Spuren im Gehirn hinterlassen.

    Markowitsch: "Ideal wäre es, wenn man die Wirksamkeit der Therapie auch durch ne entsprechende Hirnbildgebung überprüfen könnte…., also ne Begründung, was da auf Hirnebene sich verändert, dass bestimmte Hormone freigesetzt werden, dass bestimmte Verbindungen abnehmen, andere zunehmen."

    Ist es dieses Selbstbewusstsein zum Beispiel der Neurowissenschaft, weshalb so viel von der "Krise der Geisteswissenschaften" die Rede ist? Zwar wollte die Berliner Tagung nach vorn blicken und Hoffnungszeichen setzen. Aber "die Krise" war trotzdem anwesend: Da fragten Germanisten selbstkritisch, wie sie mit Maschinenbauern ins Gespräch kommen könnten. Sprachwissenschaftler, wie man Forschungen über "den Relativsatz im Altlateinischen" legitimieren könne. Und andere wollten ihre Aufgabe keinesfalls darauf reduziert sehen, Orientierungswissen für angehende Ingenieure zu liefern. Prof. Regina Ammicht-Quinn, Ethikerin an der Universität Tübingen, diagnostizierte einen "Relevanzverlust" der Geisteswissenschaften:

    "Meine These ist ja, dass sozusagen der Relevanzverlust sich als Reputationsverlust äußert und dass viele Kränkungen dabei sind, davon abgesehen, dass der Wissenschaftsbetrieb sich stark orientiert an der Funktionsweise von Natur- und Technikwissenschaften.""

    Dabei waren sich die Tagungsteilnehmer einig, dass die Zeiten vorbei sind, in denen der Rotstift vor allem in den Geisteswissenschaften regierte. Auch in der Forschungsförderlandschaft werden die Geisteswissenschaften keineswegs stiefmütterlich behandelt, so Prof. Hermann Parzinger, Präsident der Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Mitveranstalter der Tagung:

    ""Wenn man auch sieht die Förderzahlen der Geisteswissenschaften, die speziellen Programme, in denen Geisteswissenschaften bei Fördereinrichtungen auch reüssieren, dann kann man nicht sagen, dass die Geisteswissenschaften weniger Möglichkeiten haben, ganz im Gegenteil. Die Geisteswissenschaften müssen natürlich immer wieder ihre gesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellen, aber das ist legitim."

    Gesellschaftliche Relevanz allerdings, so die Klage, werde auch heute oft am ökonomischen Nutzen bemessen. Kosten-Nutzen-Rechnungen allerdings sind für die Geisteswissenschaften inadäquat und bringen diese nach wie vor in Rechtfertigungsnöte.

    Parzinger: "Man kann bei Geisteswissenschaften nicht nach dem ökonomischen Profit fragen. Das ist ein ganz anderer Profit, der Profit, der sich einfach in dem Zusammenhalt kultureller Werte äußert. Das ist alles schön gesagt, es stimmt aber auch."

    Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum spannte in ihrem Abendvortrag den großen Bogen. Die Humanities, also die Geisteswissenschaften, die in den USA übrigens stärkeren Kürzungen unterworfen sind als hier, könnten nicht unter dem Aspekt eines kurzfristigen ökonomischen Profits beurteilt werden. Man brauche sie vielmehr, weil sie die Demokratie lebendig hielten, den kritischen Blick gegenüber dem Eignen bewahrten und einen kosmopolitischen Horizont eröffneten.

    Doch welche demokratischen oder auch kritischen Perspektiven eröffnen sich bei Projekten wie zum Beispiel "Sprecherurteile zur Dekomponierbarkeit englischer Idiome" oder "Untersuchungen zur Keramik des Molpír bei Smolenice"?

    Parzinger: "Man muss unterscheiden, es gibt einerseits die Geisteswissenschaften, Kleinstfächer, die sich für die Tradition und Überlieferung bestimmter Kompetenzen sorgen. Denn ob jetzt das Altsüdarabische für so viele Menschen wichtig ist, ist ne berechtigte Frage. Aber ich denke, es ist schon wichtig, dass diese Kompetenz, dass es vielleicht an drei Universitäten der Welt diese Kompetenz gibt, dass da jemand ist, der das auch kann."

    Zudem, so Dr. Wilhelm Krull von der Volkswagenstiftung und Mitveranstalter der Tagung, solle man sich davor hüten, zu sehr aus dem Hier und Jetzt zu bestimmen, was gerade relevant sei:

    "Die Vernachlässigung der Islamwissenschaft und Abbau der Stellen auch in den 90er-Jahren ist natürlich durch den 11. September gerade sinnfällig als absurde Entscheidung zu vermitteln gewesen."

    Vielleicht ist ja schon die pauschale Frage nach der Relevanz der Geisteswissenschaften ein Krisensymptom? Forschung lebt immer auch von der zweckfreien Neugier, von dem wissenschaftlichen Interesse an unserer Herkunft, unserem kulturellen Erbe, den Gesetzen unserer Welt. Dies gilt ebenso für die Naturwissenschaften, auch wenn dort offensichtlich kein Legitimationsdruck entsteht. Der Konstanzer Philosoph Prof. Jürgen Mittelstraß, ebenfalls Mitveranstalter der Tagung:

    "Man kann ja auch fragen, wie relevant ist es, wie groß kann hier der ökonomische Einsatz sein, Kugelsternhaufen in fernen Galaxien oder das Zeugungsgebaren von Zwerghasen zu erforschen? Die Geisteswissenschaften sollten sich nicht allein die Relevanzfrage aufbürden lassen."

    Natürlich gesteht Jürgen Mittelstraß zu, kann in einer Zeit knapper Kassen nicht jedes neugierige Fragen finanziert werden. Doch dies müsse man von Einzelfall zu Einzelfall entscheiden, sowohl für die Geistes- als auch für die Naturwissenschaften:

    "Da wir nicht mehr alles finanzieren können, was die Wissenschaft gern finanziert haben möchte, wird man - und zwar überall - auch vor die Entscheidung gestellt, was finanziert die Gesellschaft, was finanziert sie nicht? Und das ist eine Frage, die sich nicht nur an die Wissenschaften stellt, aber auch an die Wissenschaften und an die Gesellschaft."

    "Eigentlich", so versicherten sich die Forscher in Berlin immer wieder, "stehen wir doch gut da". Aber, so das ratlose Fazit, warum merkt das keiner? Warum wird so viel geklagt, so angestrengt nach einer Legitimation für das eigene Tun gesucht?

    Partzinger: "In einem bestimmten Sinne sind sie verunsichert, sie haben sich das auch einreden lassen oder reden sich das selbst ein."

    Was also ist los mit den Geisteswissenschaftlern? Handelt es sich bei ihnen um einen Haufen masochistischer Professoren, die es lieben, den fraglichen Sinn ihres eigenen Tuns herauszustreichen? Jürgen Kaube von der F.A.Z wies darauf hin, dass die Geisteswissenschaften in früheren Jahrzehnten ganze "Heroenmassive" anzubieten hatten: Dieter Henrich, Hans Georg Gadamer, Hans Blumenberg zum Beispiel. Und heute? Seien sie überspezialisiert und hätten damit sozusagen das große Ganze aus dem Blick verloren. Das könnte stimmen. Sieht man sich zum Beispiel die Philosophie an, so wird da nun seit über 30 Jahren Machtanalyse mit Foucault, Diskursdekonstruktion nach Derrida betrieben, natürlich auch noch Habermassche Konsenstheorie. Aufsehenerregend Neues – ist nicht in Sicht.

    Mittelstraß: "Es gibt in der Tat im Augenblick eine merkwürdige Buntheit im Bereich der Philosophie. Das sind so wellenförmige Bewegungen, die es sicher auch in anderen Fächern gibt, je bunter, desto besser. Und dadurch mag auch eine gewisse Profillosigkeit erkennbar sein."

    Aufsehenerregend Neues gibt es aber dennoch. Mit großem, vielleicht überzogenem Selbstbewusstsein demontiert die Hirnforschung die Willensfreiheit, spürt die Evolutionsbiologie den Anfängen des Lebens nach, forscht die Genetik nach dem Natürlichen und dem Sozialen im menschlichen Verhalten. Die Philosophie diskutiert mit bei diesen Fragen, leistet ethische Beratung. Aber boshaft könnte man sagen, sie springt auf einen Zug auf, den sie nicht in Bewegung gesetzt hat. Jürgen Mittelstraß bedauert das nicht, sondern sieht das sogar als Bereicherung:

    "Das sehe ich eher als einen Vorteil, nicht als eine Schwäche, dass sie nicht mehr meint, von sich aus alle großen Fragen beantworten zu können, sondern dass sie das in Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen etwa der Biologie oder den Neurowissenschaften tut. Und da wächst ihr auch wieder eine neue Aufgabe zu. Denn viele Aussagen, die in diesen Bereichen etwa im Bereich der Biologie oder der Neurowissenschaften getroffen werden, sind höchst problematischer Art."

    Und dennoch: Vielleicht ist hier die Melancholie begründet, die zäh über den Geisteswissenschaften liegt. Vor über 30 Jahren hatte der Philosoph Jean Francois Lyotard "das Ende der großen Erzählungen" ausgerufen. Seither übt sich die Philosophie in Bescheidenheit. Die großen Erzählungen allerdings werden jetzt anderswo vorgetragen. Hans Markowitsch, Neuropsychologe:

    "Es bleibt sicher weiterhin die Frage, was ist der Mensch. Nur die Philosophie hat jetzt Konkurrenz bekommen, weil Neurowissenschaftler eben auch sagen, wir wollen jetzt unseren Beitrag leisten und vielleicht in mancher Hinsicht anders argumentieren. Zum Beispiel die Determinismus-Debatte, wenn man ja zeigen kann, dass das Individuum ne Hirnänderung hat, dass dann auch das Verhalten sich ändert und dass dadurch in Teilen das Menschenbild durch die Neurowissenschaften neu definiert wird."