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Leben in Dschenin

Zehn Jahre nach dem Einmarsch der israelischen Armee in Dschenin geht es aufwärts in der Kleinstadt im Norden des Westjordanlands. 200 Unternehmen wurden im vergangenen Jahr angemeldet, Dschenin erlebt einen Bauboom. Doch wer an der Oberfläche aus Optimismus und Aufbau kratzt, stößt schnell auf eine dunklere Stimmung.

Von Torsten Teichmann | 12.04.2012
    Dschenins Aufschwung beginnt in einem Haus kurz vor der Grenzlinie zu Israel. Nähmaschinen rattern in der großen Halle, Dampfbügeleisen zischen. 50 Näherinnen fügen weiße Stoffteile zu T-Shirts zusammen. Wassim Amer sitzt mit dem Rücken zur Betriebshalle in einem kleinen Büro. Neben ihm hängen auf alten Bügeln aktuelle Modelle aus der Kollektion. Streng genommen ist der 53jährige Manager eines Sweat-Shops:

    "Das ist eine Textilfabrik. Wir sind genau an der Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland. Es ist der nördlichste Punkt des palästinensischen Gebiets. Vom Checkpoint sind wir nur 200 Meter entfernt."

    Unternehmen für Kleidung und Schuhe, Baumärkte und Autowerkstätten seien der Motor der wirtschaftlichen Erholung, sagt Hisham Massad, der mit in die Textilfabrik gekommen ist. Hisham ist Chef der Wirtschaftskammer. Er wirbt er unaufhörlich für die palästinensische Kleinstadt. Hisham erzählt voller Stolz, dass Firmen nach Dschenin zurückkehren. 200 Unternehmensgründungen habe die Kammer im vergangenen Jahr gezählt. Die Stadt erlebe einen Bauboom.

    Hisham Massad sagt, am Wochenende kämen bis zu 27.000 Gäste nach Dschenin. Die Händler sind auf den Besuch längst angewiesen. Sie verkaufen ihnen Bettwäsche, Orangen, Tomaten und Kartoffeln, aber auch Kleidung. Nur die T-Shirts aus der Textilfabrik von Wasim Amer gibt es in der Innenstadt nicht zu kaufen. Denn die 130 Angestellten des Sweat-Shops produzieren ausschließlich für eine israelische Kleidungsmarke - für "Honigman".

    Ohne den Vertrag mit "Honigman" gäbe es keine Arbeit, sagt Wassim Amer der Manager. Abu Wassim, der Palästinenser, regt sich darüber auf, dass er ausschließlich Waren für die israelische Firma reibungslos durch den Grenzübergang bekommt, aber nichts anderes:

    "Heute arbeiten wir immer noch eingeschränkt. Auch wenn es ein großes Potenzial gibt, um zum Beispiel für die USA und Europa zu produzieren. Aber nach den Verträgen ist das nicht möglich. Alles hier bekommt die Marke 'Made in Israel'. Das ist ungerecht, das ist nicht einmal logisch. Wir stellen alles her und dann darf es nur unter israelischem Namen verkauft werden."

    Wer in Dschenin ein wenig an der Oberfläche aus Optimismus und Aufbau kratzt, stößt immer wieder auf eine dunklere Stimmung. Die Stadt hat eine allgegenwärtige Vergangenheit. Und es gibt zu viel Unsicherheit, um unbegrenzt an eine bessere Zukunft zu glauben.

    Das Flüchtlingslager von Dschenin ist ein Teil von Dschenins Vergangenheit. Das Viertel westlich des Stadtzentrums heißt seit 1953 allgemein Flüchtlingslager, obwohl auch hier Häuser aus Stein stehen. Doch die älteren Bewohner stammen nicht aus Dschenin sondern zum Beispiel aus Haifa oder Affula. Also Dörfern und Städten, die heute zu Israel gehören. Sie mussten während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 fliehen, haben alles verloren, vor allem Grund und Boden.

    Eyyad Dibieh ist 26 Jahre alt. Er ist in den engen Straßen, die einen Berg hinaufführen, aufgewachsen:

    "Wir sind im Flüchtlingslager von Dschenin. Wir gehen durch die Straßen und alle gelben Häuser hier, sind neu errichtet worden, nach den Ereignissen von 2002. In dem Haus hier wohnen drei Familien. Straßennamen gibt es nicht. Links von uns ist das Al-Hawashin Viertel, das 2002 völlig zerstört worden war."

    Im April 2002 rückt die israelische Armee in Dschenin ein. Es ist die Zeit der zweiten Intifada. Des Aufstands der Palästinenser gegen die gewaltsame israelische Besatzung ihres Gebiets. Und die Palästinenser tragen die Gewalt seit Ende 2000 in die israelischen Städte. Selbstmordattentäter sprengen sich in Cafés, Hotels und Bushaltestellen in die Luft. Die Zahl der Toten und Verletzten steigt auf beiden Seiten – durch Anschläge der Palästinenser und durch Vergeltung des israelischen Militärs. Die israelische Bevölkerung, die zum Teil gehofft hatte, mit den Friedensverträgen von Oslo seien alle Probleme gelöst, hat Angst und ist verunsichert.

    Am 27. März 2002 betritt ein Attentäter das Park Hotel in Netanja. Er geht durch die Lobby zum Essensraum des Hotels. Es ist Pessah und viele Gäste warten vor dem Speisesaal. Der Mann sprengt sich in die Luft, tötet 30 Menschen. Über 140 werden verletzt. Zwei Tage später verkündet die israelische Regierung die Operation Schutzschild mit dem Ziel, den Aufstand der Palästinenser niederzuschlagen. Israel beruft Tausende Reservisten ein. Was folgt ist vollständige, militärische Wiederbesetzung des Westjordanlandes und die Belagerung des palästinensischen Präsidenten Arafat in Ramallah. Ministerpräsident in Israel war damals Ariel Sharon:

    "Ich möchte Ihnen mitteilen, dass sich schon in diesem Moment Truppen der israelischen Armee in der Muqata befinden, dem Regierungssitz Arafats in Ramallah. Israel wird handeln, um die palästinensische Infrastruktur des Terrors zu zerstören, mit allem was dazugehört. Diese ausgedehnten Aktivitäten werden andauern bis das Ziel erreicht ist."

    Dschenin gilt in Israel zu diesem Zeitpunkt als Hochburg des Terrors. Die Armee rückt mit gepanzerten Fahrzeugen, Hubschraubern und Bulldozern an. Junge Palästinenser, die sich als Kämpfer bezeichnen, verminen Häuser mit Sprengfallen und teilen sich in kleinere Kampfeinheiten auf. Die israelische Armee ist darauf nicht vorbereitet. Beinahe elf Tage dauern die Kämpfe – die Zahl der Opfer ist immer noch umstritten. Als gesichert gilt, dass 23 israelische Soldaten und mindestens 52 Palästinenser getötet werden. Teile des Flüchtlingslagers waren am Ende völlig zerstört.

    Einer der bewaffneten Palästinenser, der den Kampf um Dschenin überlebt hat, ist Zakaria Zubeidi. Dessen Mutter war Anfang März 2002 von israelischen Soldaten getötet worden.

    "Das hängt alles zusammen und es ist wichtig. Als meine Mutter getötet wurde, war sie unbewaffnet, nicht ein Schuss, nicht einmal ein Stein bei ihr. Aber sie wurde getötet. Damals verstand ich, dass jeder Palästinenser ein Ziel ist. Die Israelis wollen uns töten. An dem Punkt verstand ich, dass ich wenigstens entscheiden möchte, wie ich sterbe."

    Zakaria erzählt meist beiläufig, jungenhaft. Dabei sitzt er bei seinem Freund Mohammed Zuluf und dessen Ziegen im Garten und hält den hölzernen Hirtenstab in der Hand. Ein friedliches Bild.

    Häufig gibt es die Frage, ob sich die palästinensische Gesellschaft von der Gewalt gelöst hat. Und dann taucht meist der Name Zakaria Zubeidi auf. Der frühere Chef der Al-Aksa-Brigaden in Dschenin, der Bombenbauer und Drahtzieher von Anschlägen hat vor fünf Jahren der Gewalt abgeschworen – zumindest öffentlich. Im Gegenzug gab Israel Versuche auf, Zakaria Zubeidi zu töten. Zakaria hat eine Familie, mit Kindern und ein Haus hoch über dem Flüchtlingslager – wie Mohammad:

    Mohammad: "Israel hat unsere Häuser zerstört. Wir bekamen Geld von der Palästinensischen Autonomiebehörde und wir entschieden hier raufzukommen. Mit Tieren, Ziegen und Natur ist es schöner als unter Menschen."

    Zakaria: "Es gibt ein arabisches Sprichwort: Wenn Du nicht auf den Berg ziehst, bleibst Du für immer in den Löchern der Straße."

    Doch so ganz kann er der Straße nicht entkommen. Im vergangenen Jahr verlor Zakaria einen weiteren Bekannten. Als ein maskierter Täter vor dem Freedom Theater im Flüchtlingslager auf den israelischen Regisseur und Schauspieler Juliano Mer-Khamis schoss. War es ein Islamist, ein reaktionärer Palästinenser? Der Schauspieler starb und ausländische Helfer verließen die Stadt – einige sogar für immer.

    Eyyad Dibieh dagegen wohnt weiter bei seinen Eltern am Fuß des Berges. Also im Flüchtlingslager. Geboren während der ersten Intifada. Die Schule mit 13 Jahren abgebrochen zu Beginn der zweiten Intifada. Angeschossen von einem Scharfschützen der israelischen Armee mit 16 Jahren. Später saß Eyyad drei Jahre im israelischen Gefängnis. Wer nach Dschenin kommt, trifft immer wieder auf solche Lebensläufe.

    Aber auch Eyyad hat Schwierigkeiten einen Platz für sich und sein Leben zu finden. Da gehe es den jüngeren fast besser, sagt seine Mitarbeiterin Zikra; und Eyyad ergänzt:

    Eyyad: "Heute gibt das Freedom Theater. Da können Kinder mitmachen, sie können sich ausdrücken."

    Zikra: "Sie haben Spiele, Fernsehen, es gibt das Kino, es gibt ein paar Orte für sie."

    Eyyad: "Für mich ist das nichts. Mir ist nicht danach."

    Einer dieser Orte für Kinder und Jugendliche in Dschenin ist die Musikschule Al Kamandjati. Mohammad Abu Ala sitzt mit einer Klavierschülerin in einem kleinen Probenraum der Schule. Jeder trägt eine Jacke, weil die Räume nicht beheizt sind. Es ist ein Wunder, dass die Finger bei der Kälte die richtigen Tasten anschlagen. Mohammad spielt Klavier und Akkordeon. Er hat aber noch einen Notfallplan:

    "Ich lerne Steuerberater - aber das will ich nicht wirklich. Ich mag Musik und da sehe ich mich. Da unsere Gegend aber nicht wirklich stabil ist, weiß man nicht, was die Zukunft bringt. Sollte es wieder Kämpfe geben, kehre ich in meinen Beruf zurück, denn Musik ist dann Luxus."

    Der "Luxus" in Al Kamandjati wird mit ausländischer Hilfe finanziert und von palästinensischen Ministerien. Einige Lehrer kommen auch aus dem Ausland, zum Beispiel aus Deutschland und Großbritannien. Sie fahren einmal pro Woche vom Stammhaus in Ramallah hoch in den Norden nach Dschenin. Meist unterrichten aber Musiker aus Dschenin. Lehrer wie Mohammad.

    Maria Dolani und ihr Mann Tarek schicken beide Söhne zu Kursen und Proben auf die Schule. Die Tochter Rasha hat bereits Klavier gelernt. Es fällt auf, wie wichtig Maria diese Dinge sind. Sie fordert ihre Kinder auf, mit ausländischen Gästen Englisch zu sprechen und nicht Arabisch. Maria ist Augenärztin und sie stammt aus Russland:

    "Dschenin ist so wie Städte in Russland auch. Ich mag die Menschen. Als Ärztin habe ich viel Kontakt, und ich habe keinerlei Probleme, im Gegenteil: Das sind wirklich gute Menschen."

    Auch Marias Mann ist Arzt. Er sagt, man dürfe Dschenin nicht immer nur durch die Augen von Zakaria Zubeidi betrachten. Die Familie wohnt in der Nähe des Stadtzentrums. Sie bauen im Moment ein Haus - außerhalb. Wer zur Wohnungstür hereinkommt steht in Marias Praxis. Der Raum ist abgetrennt, gleich daneben beginnt das Wohnzimmer mit Sesseln und einer Couch, gegenüber ein langer Esstisch. Davor steht gerade ein Fahrrad und dahinter ein Klavier – das dringend gestimmt werden muss.

    So wohnt Dschenins Mittelschicht. Und wer der Familie zuhört, glaubt ihr, dass sie trotz der alltäglichen Sorgen nirgendwo anders leben will. Nur im Frühjahr 2002 nach den heftigen Kämpfen im Flüchtlingslager und in der Stadt packten Tarek, Maria und die Kinder ihre Koffer:

    "Es war schwer aus Dschenin rauszukommen. Fast unmöglich. Die einzige Möglichkeit war, am Checkpoint zu sagen, dass wir alle Russen sind, dass wir weglaufen wollen aus Dschenin. So habe ich es koordiniert. Sonst war doch niemand in der Lage, die Stadt zu verlassen."

    Die Familie ging nach Russland. Und so wie sie gingen vor zehn Jahren viele andere. Der Chef der Wirtschaftskammer Hisham Massad sagt, allein in seinem nahegelegenen Dorf wären 50 Familien nach Norwegen und in die Vereinigten Arabischen Emirate ausgewandert. Andere gingen nach Ramallah. Familie Dolani kehrte zwei Jahre später wieder zurück. Der älteste Sohn Fawaz ist dankbar für die Entscheidung seiner Eltern.

    "Ich bin in Palästina geboren, ich habe meine Freunde hier. Es ist nicht einfach, seine Träume in Palästina zu erreichen. Die Möglichkeiten sind begrenzt. Aber einige Menschen haben Talent und können damit etwas anfangen. Es war richtig, nach Dschenin zurückzukehren."

    Mujahed Rabya ist Polizist in Dschenin. Das heißt, der 47-jährige weiß vor allem ganz genau, wohin er fahren darf und wo seine Befugnisse enden. Mujahed bleibt an einem alten, großen Café stehen, das die Form eines Flugzeugs hat. Nur wegfliegen kann von hier niemand.

    "Wir sind jetzt am südlichen Eingang von Dschenin. Bis zu diesem Punkt dürfen wir als Polizisten arbeiten. Ohne Erlaubnis der Israelis dürfen wir nicht weiterfahren. Wir wollen es nicht einmal versuchen, das macht nur Probleme. Und wir respektieren die Abkommen."

    Die Abkommen sind die Osloer Verträge: Darin wird das Westjordanland in drei Gebiete unterteilt: Gebiet A mit voller palästinensischer Kontrolle, Gebiet B mit Koordination von Palästinensern und Israelis und Gebiet C, welches unter israelischer Verwaltung steht.

    Mujahed Rabya darf nur im Gebiet A patrouillieren. Doch weil er schon eine Weile an der unsichtbaren Grenze steht, hält eine vorbeifahrende Einheit der nationalen Sicherheitskräfte an und fragt, ob alles in Ordnung sei.

    Der Chef der Sicherheitskräfte Abu Tarek Asida sitzt in der Mukqatta von Dschenin. Eine Kaserne, die gerade wieder aufgebaut wird – beinahe zehn Jahre nach ihrer Beschädigung. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hängt auf voller Breite das Foto einer blühenden Wiese. Selbst aufgenommen sagt Abu Tarek.

    Der 56-Jährige ist klein, drahtig und ein ehemaliger Kämpfer. Heute wirbt er für Gewaltlosigkeit. Jede Zeit habe ihre Mittel, sagt er – gerade so als sei die Intifada Ausdruck einer Mode gewesen. In Dschenin gibt es Sicherheitsabsprachen zwischen Israelis und Palästinensern. Doch Abu Tarek warnt, in der Praxis drohe das Modell zu scheitern:
    "Die israelische Seite respektiert nicht die Vereinbarungen, wir tun es. Die Welt weiß das, Europa weiß das. Das führt zu einer Eskalation, wenn man Israel nicht in die Pflicht nimmt. Israel unterläuft die Abmachungen und niemand kritisiert sie dafür. In den Gebieten B und C haben wir keine Hoheit und sie machen was sie wollen - und niemand greift ein."

    Der Sicherheitschef meint damit die Vorstöße der israelischen Armee auf Gebiete der palästinensischen Autonomie. Also nächtliche Fahrten ins Flüchtlingslager, Verhaftungen von Palästinensern. Dann nämlich müssen die Palästinenser ihre Sicherheitskräfte zurückziehen. Sie empfinden es als Demütigung.

    Wie gesagt, wer ein wenig an der Oberfläche kratzt, stößt immer wieder auf eine dunkle Stimmung. Dschenin sollte mit internationaler Hilfe ein weiteres Modell für einen palästinensischen Staat werden. Viel ist in zehn Jahren gelungen, doch auch die Grenzen dieses Versuchs sind bei genauem Hinsehen zu erkennen.