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"Leben mit einem Idioten"

Einen Schocker nannte das die örtliche Presse bei der heimischen Premiere. Gediegenes Repräsentationstheater à la Bolschoi oder Mariinsky ist dies jedenfalls nicht. Allerdings hat es Alfred Schnittkes Leben mit einem Idioten auch in sich. Entstanden nach der gleichnamigen Erzählung von Viktor Jerofejew, ist es eine Abrechnung mit dem Sowjetsystem nach dem Motto, jeder holt sich den Idioten ins Haus, den er verdient.

Von Georg-Friedrich Kühn | 19.02.2004
    Und die Russen lieben ja die Figur des weisen Narren, unter welcher Kappe er auch daher kommt.

    Mit Zeitungsseiten der "Prawda", zu deutsch bekanntlich "Wahrheit", ist die Psychiatrie tapeziert, in der ein Ehepaar sich einen Idioten aussucht als häuslichen Mitesser. Und der, Wowa, eine Lenin-Kopie mit starrer Pose und lediglich stotterndem "Äh-Äh" auf den Lippen, frisst sich auch erst mal bescheiden durch den Kühlschrank. Allmählich aber frisst er sich wie eine Raupe in das gesamte häusliche Leben des Paars und bringt es durcheinander. Erst im Konkubinat mit der Ehefrau dann mit dem Mann.

    Ausgiebig wird in dieser Aufführung kopuliert, uriniert und in Exkrementen gewühlt. Jeder treibt’s hier mit jedem und an jedem denkbaren Ort, derweil die geifernden, sich am Boden wälzenden Irren begierig zuschauen oder imitieren. Am Ende schneidet Wowa der Ehefrau den Kopf ab und stülpt ihr eine Mütze aus Zeitungspapier über den Rumpf. Sinnigerweise besorgt er ihr das mit einer Präzisions-Gartenschere made in GDR.

    Dann verzieht er sich in ein stilles Stübchen mit Hitler, Stalin und Lenin als trauten Kumpanen einer Ahnengalerie, in der auch Saddam, Arafat und Castro ihre Ehrenplätze haben, während der "Ich" genannte Ehemann und Dichter selber verdämmert in der Psychiatrie. Das Bild umrahmen im Stechschritt paradierende Soldaten.

    Anlässlich der deutsch-russischen Kulturtage ist das Staatliche Akademische Theater Nowosibirsk zu Gast in der Bundesrepublik mit dieser Produktion. Premiere hatte die Aufführung dort im vergangenen April. Ein Geheimtipp unter Kennern ist das größte Theater der russischen Provinz im fernen Sibirien seit langem. Mit dem polnischen Regisseur Henryk Baranowski hat man sich allerdings nun einen Szeniker geholt, der geradezu lustvoll Wunden aufreißt.

    Schnittkes polystilistische Musik zwischen Verulkung sowjetischer Pseudo-Folklore, Tangos, Walzern, Märschen und Postavantgarde eröffnet dazu ein breites Spektrum szenischer Möglichkeiten, auch wenn im zweiten Teil die Spannungskurve doch etwas fällt. Unter den Sängern ragt vor allem Alexander Lebedjew als Darsteller des "Ich" mit einer oft ins Falsett exaltierenden Stimme hervor.

    Einiges abverlangt wird auch dem Dirigenten, Eugen Wolinsky. Als Zeitungsverteiler kommt er zu Beginn durchs Parkett in den Theaterraum, muss sich dann mit Bauchrolle vorwärts über die Brüstung in den hochgefahrenen Orchestergraben an seinen Platz hieven, darf dort aber auch schon mal genüsslich roten Tomatensaft am Strohhalm saugen oder mit dem Hauptdarsteller telefonieren.

    Produktionen wie diese, die Kritisches aufspießen ohne Tabus, sind auch in Russland noch die Ausnahme, erfährt man. Etwas reserviert anfangs aber dann doch mit anhaltendem Beifall reagierte das Magdeburger Publikum auf den Theaterabend. Dort hatte die Aufführung ihre Deutschland-Premiere. Berlin und München sind die weiteren närrischen Stationen.