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Leben wie ein Tagelöhner
Bremen ist Hauptstadt der Leiharbeiter

Der Anteil der Leih- beziehungsweise Zeitarbeiter ist nirgends so hoch wie in dem kleinen Stadtstaat Bremen. Vor fünf Jahren lag er bei ungefähr fünf Prozent. Tendenz steigend. Bislang ist es nicht gelungen, die Leiharbeit einzudämmen. Stattdessen nimmt die Zahl der prekären Jobs weiter zu.

Von Almuth Knigge | 13.07.2017
    Leiharbeiter gehen an einer Straße entlang nach Feierabend
    Der Stadtstaat wird den Titel als Leiharbeiter-Hochburg Deutschlands nicht los. (dpa/Rust)
    "Das Schlimme ist ja, wenn du frei hast, hast du ja kein frei, weil sie dich ständig anrufen, ja, ist bei meinem Sohn auch immer."
    Streikfrühstück bei Verdi im Bremer Gewerkschaftshaus – im Einzelhandel Bremen/Niedersachsen muss ein neuer Tarifvertrag ausgehandelt werden. Heftige Diskussionen vor der Tür.
    "Ich gehe gerne arbeiten, wirklich, ja aber unter anderen Bedingungen, ich bin auch ein Mensch und ich will Essen und Trinken, ich will davon leben können, und ich will auch mal in Urlaub fahren - das kann ich doch gar nicht."
    Helga Rolle ist die Betriebsratsvorsitzende einen großen Textildiscounters. Sie ist in absoluter Streiklaune.
    "Gestern sagt einer zu mir, BILD Hannover, sagt der zu mir, warum wollen sie sechs Prozent, da guck ich den an und denke, was bist du denn für ein Spacken. Informiere dich mal, was wir generell verdienen. Ehrlich. Oder unsere Tarifverträge, wenn sie uns unsere Tarifverträge nehmen..."
    Tarifverträge im Einzelhandel eine Seltenheit
    Die Gefahr besteht durchaus. Tarifverträge sind im Einzelhandel mittlerweile eine Seltenheit, meint Rudolf Hickel. Er war lange Jahre Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft in Bremen und kennt den Arbeitsmarkt des kleinen Bundeslandes wie kaum jemand.
    "Der Einzelhandel insbesondere Discounthandel ist natürlich die absolute Speerspitze im Ausstieg aus dem Tarifvertragssystem."
    Leiharbeit, Minijobs, alles, was man sich in der Welt der prekären Beschäftigung vorstellen kann, nutzt der Arbeitgeber zur Gewinnsteigerung. Anfangen hat alles, sagt Hickel, unter anderem mit Schlecker:
    Hickel: "Schlecker hat ja die massive Leiharbeit eingeführt, Schlecker hat auch eingeführt Werktverträge fürs Auffüllen von Regalen." Mit der Folge und vielleicht auch mit der Absicht, dass diese Mitarbeiter ohne Tarifbindung und eben ohne jegliche Sicherheit dastehen. "Und es nehmen auch Betriebe ab, die der Tarifbindung unterliegen …"
    Anteil der prekären Jobs liegt bei 40 Prozent
    In Bremen passiert oftmals früher, was den anderen Ländern noch bevorsteht. Der Anteil der Leih- beziehungsweise Zeitarbeiter ist in nirgends so hoch wie in dem kleinen Stadtstaat. Vor fünf Jahren lag er bei ungefähr fünf Prozent. Tendenz steigend. Die Anzahl derer, die prekär – das heißt unsicher, ohne soziale Absicherung und mit niedrigeren Löhnen als das Stammpersonal beschäftigt sind – , liegt, wenn man großzügig rechnet, bei 40 Prozent.
    Nur noch 57 Prozent der Arbeitsverträge in Bremen sind Vollzeitverträge, viele davon befristet. Und das ist nicht nur im Niedriglohnsektor so, sondern auch bei den gut bezahlten Jobs in der Automobil oder Luft und Raumfahrtindustrie.
    "Wir haben in Bremen seit Jahren ein zunehmendes Prekariat, das heißt eine Spaltung des Arbeitsmarktes gegenüber den tarifrechtlich mitbestimmungsmäßig abgesicherten Arbeitsplätzen nehmen die prekären Jobs immer mehr zu.
    Im Krankheitsfall kein Geld
    Im Mittelpunkt – die Leiharbeit. Auch wenn es da durchaus mittlerweile einen Tarifvertrag gibt. "Aber die Löhne spielen sich dann eher in der Höhe des Mindestlohns ab, und insoweit spielt die Tarifvertragsdynamik da kaum eine Rolle."
    Die Arbeitsrealität für Musik- und Sprachlehrer, oft befristet oder als Minijobber eingestellt – sieht zum Beispiel so aus. Betroffene erzählen: "Im Krankheitsfall würde ich kein Geld bekommen. In den Schulferien werden wir nicht bezahlt, das sind einkommenslose Zeiten, die Rente wird sehr niedrig ausfallen."
    Verkäuferinnen stehen auf Abruf und bekommen höchstens zehn Stunden-Verträge. "Man lebt im Grunde genommen wie ein Tagelöhner."
    Wissenschaftliche Mitarbeiter, Kellner, Zimmermädchen, Köche, ja – auch – Journalisten – brauchen Zweit und Drittjobs. "Verlass, oder ne Verlässlichkeit, haben wir vertraglich nicht, wir haben einen Monat Kündigungsfrist."
    "In meinem Fall muss ich wirklich sagen, ich kann davon nicht leben."
    Senat will Anteil der Leiharbeiter reduzieren
    Warum ist das so? Arbeitsmarkt-Experte: "Das hat was damit zu tun, dass in Bremen der Druck aufgrund der immer drohenden Arbeitslosigkeit relativ hoch ist und das dann die Instrumentalisierung der möglichen, sich abzeichnenden Arbeitslosigkeit natürlich genutzt wird, solche Billigjobs insgesamt stärker durchzusetzen."
    Der Bremer Senat will den Anteil von Leiharbeit reduzieren. So soll zum Beispiel die Zahlung von Investitionsfördermitteln künftig von der Quote der Zeitarbeiter abhängig sein. "Bremen hat in den letzten Jahren immer zu Gunsten der Unternehmer auf Arbeitssicherungsrechte im Grunde verzichtet." Rudolf Hickel ist skeptisch: Eine gute Idee, die Umsetzung ist schwierig.
    "Ich glaube, das wird in Bremen verkündet und das ist auch sicher gut gemeint aber am Ende nicht durchgesetzt." Für Verdi geht die Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern weiter. Sandra Schmidt von der Gewerkschaft pusht die Stimmung beim Streikfrühstück weiter in die Höhe.
    "Ich finde, wir hätten kein besseres Motto treffen können für diese Tarifrunde, das bringt es wirklich auf den Punkt - du verdienst mehr, ihr verdient mehr, wir verdienen mehr. Und vielleicht rutscht es mir dann auch mal raus in einer Tarifverhandlung, ihr verdient Anerkennung, von eurem Arbeitgeber, für das, was ihr leistet. Ohne Euch könnten die sich nicht die ein oder andere Yacht leisten, oder Urlaub oder Drittauto und Viertauto."
    Klassenkampf-Rhetorik. Aber sie trifft den Nerv: "Es müssten wesentlich mehr rausgehen, jetzt auch in der Innenstadt. Die müssten alle rausgehen, alle. Läden zumachen. Raus."
    "Und warum machen sie das nicht?" Helga Rolle: "Weil sie Angst haben, die meisten haben ja Angst. Angst."